# taz.de -- Ulla& Willi | |
> Lucie Marsmann hat von ihren Großeltern Fotos geerbt, die sie zu einem | |
> Schatz verarbeitet hat. Die beiden haben sich über Jahrzehnte an den | |
> gleichen Orten wechselseitig fotografiert – Instagram vor seiner Zeit | |
Was bleibt eigentlich übrig, wenn irgendwann das Haus der Großeltern, die | |
Wohnung der Eltern besenrein ist, man die Tür ein letztes Mal zuzieht? | |
Fotoalben. Familienfotos wirft kaum jemand weg, aber meist weiß niemand | |
noch etwas Vernünftiges mit ihnen anzufangen. | |
Die visuelle Künstlerin und Fotografin Lucie Marsmann begann im Jahr 2012, | |
sich mit dem Nachlass ihrer Großeltern mütterlicherseits zu beschäftigen, | |
diesen aufzuarbeiten – und auch „zur Diskussion zu stellen“, wie sie selb… | |
schreibt. Ihre Großeltern, Ulla und Willi, hatten über Jahrzehnte die | |
Angewohnheit, sich gegenseitig am selben Ort zu fotografieren, Schuss und | |
Gegenschuss. Man sieht sie mit Rosen vor Alpenkulisse, in Badekleidung auf | |
dem Balkon der Ferienwohnung, vor der Motorhaube des neuen Autos, im | |
Wohnzimmer. Schuss und Gegenschuss zeigen das Glück ihrer Tage – mit einer | |
Prise Humor, der retrospektiv leicht angeschrägt bis schön schrullig wirkt | |
und bezogen auf die Praxis gegenwärtiger Fotografie fast schon von | |
Hellsichtigkeit zeugt: Ulla und Willi betrieben eine | |
Instagram-Selbstdarstellung mit den Mitteln der Analogfotografie, auch wenn | |
sie sich nicht des Selbstauslösers bedienten, sondern sich gegenseitig in | |
Szene setzten. | |
Lucie Marsmanns Großeltern waren dabei Profis, denn beide waren | |
Fotograf*innen, hatten ihre Leben der Fotografie verschrieben. Sie besaßen | |
ein eigenes Foto-Geschäft und Porträt-Studio, der Großvater war außerdem | |
Fotojournalist für regionale Tageszeitungen im Umkreis von Wuppertal und | |
Remscheid. | |
Lucie Marsmanns [1][Buchprojekt „Ulla & Willi“] ist nicht nur die | |
liebevolle Darstellung eines Rituals, sondern darüber hinaus eine | |
Erinnerung an die fast versunkene Welt besagter Analogfotografie. Und an | |
eine Welt von Gestern, die uns endgültig zu entgleiten scheint: die | |
Bundesrepublik der Nachkriegszeit mit ihrer Erzählung vom Wohlstand für | |
alle, beständigem Frieden inmitten des Kalten Krieges, dem kleinen Glück zu | |
Hause und dem großen Glück auf Reisen. Und natürlich dem | |
Freiheitsversprechen des Individualverkehrs – dem eigenen Wagen. | |
Lucie Marsmann hat den Nachlass der Großeltern nicht nur archiviert sondern | |
auch befragt, ihn zum Anlass einer Neuproduktion genommen. Das Buch enthält | |
auch eigene Fotografien von Orten und Gegenständen, mit denen sie | |
Erinnerungen an die Großeltern verbindet. Ein Schlüsselanhänger des | |
Großvaters zum Beispiel oder ein Tanzschuh der Großmutter. | |
Es ist eine zeitgenössische Perspektive geworden, auch mit dem einen oder | |
anderen Erstaunen über bizarre Tapetenmuster und quietschende Autofarben, | |
die beim Betrachter, je nach Herkunft und Alter, sicher auch eigene | |
Erinnerungen weckt. Und die leise Frage aufwirft, was eigentlich eines | |
Tages mit den eigenen Aufnahmen in der Cloud geschehen mag. Man hat sich ja | |
nicht einmal selbst die Mühe gemacht, sie einzukleben. | |
Martin Reichert | |
26 Nov 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://raum-21.org/arbeiten/lucie-marsmann/ulla-willi/ | |
## AUTOREN | |
Martin Reichert | |
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