Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Lektionen für die Gegenwart
> Das Filmfestival Afrikamera zeigt von heute an im Kino Arsenal
> afrikanische Positionen zwischen kritischen Sozialporträts und
> psychischen Tiefenbohrungen
Bild: Szene aus dem Film „Soula“
Von Michaela Ott
Furios, die unbeabsichtigte Odyssee eines ägyptischen DJs durch die
Kernlande der EU, von Luxemburg nach Belgien, quer durch Halbweltmilieus
aus Grenzkontrollen, Schmugglern und Kleinkriminellen: Weil er seines
Passes verlustig gegangen ist, wird er als illegaler Migrant gejagt. Und
doch kann er sich, oh magische Verwandlung, qua musikalischer
Situationsumkehr in einen Star transformieren. Der Spielfilm „Sawah“ (Adolf
El Assal) karikiert nicht nur die den Afrikanern zugeschriebene
Existenzform, sondern bindet das Geschehen an den Tahirplatz zurück,
weshalb der Sieg des DJs beim Brüssler Musik-Contest auch positive
Auswirkungen auf das dortige Revolutionsgeschehen hat. Eine Utopie
„Schwarzer Vernunft“? Eine Beggars Opera für die Subalternen aller
Kontinente?
Diese so gar nicht afrotypische Blickumkehr läutet den Schwerpunkt
„Migration“ des diesjährigen [1][Afrikamera-Filmfestivals] ein. Es bietet
eine wie immer von Alex Moussa, dem Leiter des [2][berühmten
Fespaco-Filmfests in Ouagadougou, Burkina Faso,] getroffene Auswahl
unterschiedlicher Filmgenres, die höchst diverse migrantische Prozesse
thematisieren. Dokufiktionale Langfilme wie „Footsteps of a Migrant“
(Delphine Yerbanga) zeigen, wie Zwillinge nach Spuren des unbekannten
Vaters zwischen Senegal und Guinea-Bissau suchen – und unerwarteten
Familienzuwachs erhalten.
„No U-Turn“ (Ike Nnaebue) schildert eine langwierige und mühselige Busreise
durch Westafrika, gespickt mit Auskünften migrantischer Frauen, die
irgendwo, oft mit mehreren Kindern, nicht selten vergewaltigt, gestrandet
sind. Zwischen Zuhältern, Vergewaltigern und Drogen strandet auch „Soula“
(Salad Issaad) mit unehelichem Kind, vom Vater vor die Tür gesetzt,
irgendwo im nächtlichen Algerien. Andere wiederum auf lebensgefährlichen
Fluchtwegen, die von den Kolonisatoren gebahnt wurden, wie der Kurzfilm „5
Etoiles“ (Mame W. Thioubou) dramatisiert.
In „Breakfast in Kisumu“ schließlich lässt Rebecca A. Ajulu-Bushell ihren
Vater von seiner Arbeitmigration nach Bulgarien, Lesotho, Leeds und
Rhodesien erzählen, um abschließend zu konstatieren, dass aufgrund seiner
Abwesenheit keine Nähe mehr zu ihm möglich wird. Kritische Sozialporträts
und Stichproben zeitgenössischen Existenzkampfs, häufig aus dem Blickwinkel
von Frauen erzählt.
Das Festival bietet aber auch ästhetisch-narrative Kontraste zum
Schwerpunktthema: Der bedächtig erzählte und sehr schön gezeichnete
Animationsfilm „Nayola“ (José M. Ribeiro) schildert Nachwirkungen des
Bürgerkriegs in Angola am Beispiel zweier Frauen und ihrer Suche nach
Familie und Identität. Beide lehnen sich, mit Rap-Songs und Muskelkraft,
gegen die fortdauernde autoritäre Gesellschaft auf, wobei eingeschobene
Kriegsszenen ihre Traumatisierungen evozieren. Sogar als die tot geglaubte
Mutter inkognito zurückkehrt, wird nichts wieder gut: „Es gibt keine
Rückkehr aus dem Krieg“, sagt diese und taucht erneut ab. Repair nicht in
Sicht – eine Lektion für die Gegenwart?
Diese pessimistische Sicht gilt nicht für das fein komponierte Kunstwerk
„Father’s Day“ (Kivu Ruhorahoza), obwohl es erneut entlang des Lebens
zweier Frauen (und eines Mannes) von allerhand Unglück erzählt. Doch gegen
Ende tanzen die beiden zusammen, da die Tourismusagentin für den im Sterben
liegenden Vater, Mittäter des ruandischen Genozids, wenig Empathie
aufbringen kann. Sie tanzen, obwohl das Kind der anderen, der Masseurin,
bei einem Autounfall gestorben ist und ihr Ehemann einen Bankrott nach dem
anderen hinlegt, auch weil er den Evangelikalen sein Geld in den Rachen
wirft. Ästhetisch überlegt und narrativ verlangsamt schließt der Spielfilm
die Zuschauer:innen in seine psychischen Tiefenbohrungen mit ein.
## Verbotener Jazz in Mali
Anders, aber seinerseits bezaubernd, der Dokumentarfilm „Le Mali 70“
(Markus M. Schmidt), der den Spuren ehemaliger Bigbands in Mali folgt, die
nach der Unabhängigkeit 1960 dort aufgespielt haben und nach dem Putsch
2012 verboten worden sind. Deutsche Jazzer lassen die ausgegrabenen Tunes
mit ehemaligen Bandmitgliedern wieder ertönen, lernen afrikanische
Rhythmen, graben Platten und Texte aus.
Neorealistisch angehaucht dagegen der Dok-Film „Makongo“ (Elvia S.
Ngaibino), der die Lebensweise von Pygmäen in der zentralafrikanischen
Republik schildert: Ihre Subsistenzwirtschaft auf der Basis von Gemüse und
Raupen und der damit erzielte, zu spärliche Gewinn bedeuten unter anderem,
dass nicht alle Kinder zur Schule gehen können, und das, obwohl man sich
„Zentralafrika“ nennen darf!
Die Langfilme aus Senegal, Ruanda, Südafrika, Ägypten, Nigeria, Algerien
sind durchweg westeuropäisch kofinanziert; als Versuch des Repair oder
künstlerischer Transformation der belasteten Beziehungen? Das Filmfestival
wird ergänzt durch Veranstaltungen im Humboldt-Forum und in der
Heinrich-Böll-Stiftung und wird in der Brotfabrik wiederholt.
Afrikamera, 8. bis 13. November, Kino Arsenal, www.afrikamera.de
8 Nov 2022
## LINKS
[1] /!5816405&SuchRahmen=Print
[2] /!5805984&SuchRahmen=Print
## AUTOREN
Michaela Ott
## ARTIKEL ZUM THEMA
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.