# taz.de -- friedensnobelpreis: Erinnern für die Zukunft | |
> Memorial hat mehr als 30 Jahre lang Zeugnisse der stalinistischen | |
> Verbrechen gesammelt. Im Russland Putins ist die Organisation verboten | |
Der sowjetische Schlächter Josef Stalin hat Millionen von sowjetischen | |
Bürgern – und nicht nur ihnen – das Recht, ein Mensch zu sein, oft auf | |
brutalste Art nehmen lassen. Millionen Menschen ließ er deportieren, | |
Millionen im Gulag schuften, diesem menschenverachtenden, erbärmlichen | |
Lagersystem, das sich über sein rotes Sowjetreich wie eine Art | |
Fliegengitter gelegt hatte. Rot wie Blut. Bis heute wird in Russland nicht | |
gern über die Vergangenheit gesprochen, nicht über die Opfer, nicht über | |
die Täter. Manchmal waren auch Täter Opfer. | |
Dass die Enkel- und die Urenkelgeneration dieser Geschundenen, aber auch | |
selbst Töchter und Söhne der Verbannten und Gequälten etwas über ihre | |
Vorfahren herausfinden konnten, manchmal Namen nur, Daten, Geburtsorte, | |
Lagerorte, das haben sie Memorial zu verdanken. Einer Gruppe von Männern | |
und Frauen, die sich 1987, zu Zeiten von Gorbatschows Perestroika, | |
zusammentaten, um dieser Vergangenheit, so schrecklich und erschreckend sie | |
war, eine Stimme zu geben. An ihre Spitze setzte sich damals Andrei | |
Sacharow, der „Vater der sowjetischen Wasserstoffbombe“, der später in die | |
Verbannung geschickt wurde, unter Überwachung durch die Behörden, und zum | |
sowjetischen Dissidenten wurde. Mehr als 30 Jahre lang sammelten sie, was | |
sie finden konnten. Das wurde mit den Jahren immer schwieriger. Die Archive | |
sind kaum mehr zugänglich, Putins repressiver Staat, der in Stalin einen | |
„effektiven Manager“ sieht, wartete mit immer neuen Hindernissen auf. Bis | |
ein Moskauer Gericht Memorial im vergangenen Dezember verbot. | |
Die Vergangenheit, zumindest die unmittelbare, sie ist nicht wichtig im | |
Russland Putins. Im Russland Putins ist die Vergangenheit von vor 1.000 | |
Jahren wichtig, als das russische Reich groß und mächtig war. | |
Memorial aber schaffte eines: mit leisen Tönen die Hüterin der Erinnerung | |
zu sein, die es braucht, um sich als Mensch zu begreifen. Für viele ist die | |
Organisation eine „Augenöffnerin“, weil sie Vergessenen die Würde | |
zurückgibt. Weil sie so auch den Hinterbliebenen ein Stück Identität | |
verschafft. Gerade die heutige Generation junger Menschen macht sich | |
manchmal auf die Reise quer durchs Land, zu unwirtlichen Orten, an denen | |
oft nur noch verfaulte Holzbretter liegen, weil das offizielle Russland von | |
sowjetischen Schandtaten wenig wissen will. Memorial aber wollte es wissen. | |
Es wird immer schwerer für die unerschrockenen Geschichtsaufklärer*innen, | |
auch mit einem Friedensnobelpreis. Inna Hartwich | |
8 Oct 2022 | |
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