# taz.de -- kritisch gesehen: Zum Knäuel verdichtetes Geschehen | |
Ein grell ausgeleuchteter Raum. In der Mitte: ein grotesker Körper aus | |
Armen und Beinen; drei Darstellerinnen, die mit einem Haufen blauer | |
Wollknäuel spielen, dazu die präzise Sprache einer | |
Literaturnobelpreisträgerin: Mehr braucht es nicht, um Annie Ernaux’ „Das | |
Ereignis“ mit bedrückender Wucht auf die Bühne zu bringen. Unter unter der | |
Regie von Annalisa Engheben kam die erste deutsche Bearbeitung der im Jahr | |
2000 erschienen Erzählung Ende vergangene Woche am Deutschen Schauspielhaus | |
in Hamburg zur Premiere. | |
Die autobiografische Geschichte handelt von einer Studentin, die sich in | |
den 1960er-Jahren unter lebensbedrohlichen Bedingungen einer illegalen | |
Abtreibung unterzieht. In nüchterner Sprache schildert Ernaux die komplexen | |
gesellschaftlichen Zusammenhänge und die Folgen, die es für eine junge Frau | |
haben kann, wenn sie selbst über ihren Körper entscheiden möchte. | |
Die Umsetzung auf kleiner Bühne nun verbeugt sich tief vor der Virtuosität | |
von Ernaux’Schreiben und verlässt am Ende erhobenen Hauptes den Raum – dank | |
der eigenen dramaturgischen Leistung. Engheben traut sich eine | |
Inszenierung, so sparsam, dass sie fordert, wehtut. Der provozierende | |
Minimalismus – vom Spiel Sandra Gerlings, Josefine Israels und Sasha Raus | |
bis hin zu Sanghwa Parks Bühnenbild – fordert die Zuschauer*innen auf, | |
die geschilderten Herausforderungen im eigenen Kopf zu vervollständigen. | |
Die Wollknäuel lassen mal an strickende Mütter denken, mal an die | |
Stricknadel als Werkzeug, mit dem die Protagonistin abzutreiben versucht. | |
Das Publikum sitzt dabei um das Geschehen herum und kann sich der | |
besonderen Intimität nicht entziehen. | |
Die geschickte Auswahl der Textstellen erhält die Komplexität der | |
Ausgangserzählung: Die drei Darstellerinnen wechseln kontinuierlich ihre | |
Rollen, werden zu Anne, zum Kommilitonen, zum Arzt, zur „Engelmacherin“ – | |
und wieder zurück. | |
Diskriminierende Geschlechterrollen, Klassenkonflikte und Scham: am Ende | |
bleibt ein zum Wollknäuel verheddertes Geschehen, in dem sich die | |
Zuschauer*innen beinahe zwangsläufig verfangen müssen. Das Stück | |
verdient Aufmerksamkeit also nicht nur wegen des soeben gewonnenen | |
Literaturnobelpreises der Autorin. Es kann sich sehen lassen als unbedingt | |
gelungene Umsetzung eines denkbar wichtigen Themas. | |
Matthias Propach | |
Das Ereignis. Wieder am 18., 20. + 24.10., Hamburg, Deutsches | |
Schauspielhaus/Rangfoyer | |
19 Oct 2022 | |
## AUTOREN | |
Matthias Propach | |
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