# taz.de -- Fliehkraftversuche des Erzählens | |
> REALITÄTSEBENEN Matthias Senkel schreibt eine labyrinthische Geschichte | |
> um Fliegen und Raumfahrt – und veranstaltet dabei aberwitzige | |
> Formexperimente: „Frühe Vögel“ | |
VON ELISABETH FORSTER | |
Nö. Leicht macht es einem „Frühe Vögel“ nicht, der Debütroman des | |
Schriftstellers Matthias Senkel. Das verrät schon ein Blick in das | |
ambitionierte Inhaltsverzeichnis, wo sich keine einfache Kapiteleinteilung | |
finden lässt, sondern die Aufteilung des 300-seitigen Romans in einen | |
Prolog, ein Kapitel, das aus Lexikoneinträgen besteht – Dutzende Einträge | |
sind verzeichnet –, ein Binnenmärchen, noch ein Lexikonkapitel, ein Comic | |
(gezeichnet von Maryna Zhdanko), eine Erzählpassage, ein Interview, zwei | |
weitere Erzählpassagen und letztendlich eine Personnage zu einer innerhalb | |
des Romans entworfenen Autobiografie. | |
Matthias Senkel konstruiert damit auf schlaue Weise einen labyrinthischen | |
Roman, um die ebenso labyrinthische Geschichte einer Familie zu erzählen, | |
deren Träume um das Fliegen und die Möglichkeiten der Luftfahrt kreisen. In | |
Zeiten des späten Kaiserreichs ist es zunächst der Wissenschaftler und | |
Erfinder Theodor Leudoldt, dessen Ambitionen sich der Luftfahrttechnik | |
zuwenden, während seine Frau im Keller Fliehkraftversuche mit Tieren | |
anstellt. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs arbeitet die Familie dann an | |
einem US-Raumfahrtprogramm mit, und ihre Anstrengungen scheinen sich | |
auszuzahlen, schließlich ist es letztendlich eine Leudoldt-Enkelin, die als | |
erster Mensch den Mond erreicht. | |
## Lipstick Air Races | |
Dass das entgegen der historischen Begebenheit im Roman eine Frau ist, ist | |
nur ein Beispiel für Senkels besonderes Interesse an den Protagonistinnen | |
der Raumfahrt. Sie veranstalten „Lipstick Air Races“, zu denen nur Frauen | |
zugelassen sind, und schaffen sich auch noch andere Ventile gegen die | |
Ignoranz, die ihnen innerhalb der männlich dominierten Luftfahrt | |
entgegenschlägt. | |
In den nächsten Kapiteln entfaltet sich ein Familienepos, das Zukünftiges | |
mit Vergangenem mischt und Science-Fiction mit Postmoderne. Es ist gespickt | |
mit fantastischen Elementen, die historische Geschehnisse bewusst | |
unterlaufen, um so eine halb erfundene, halb tatsächliche Chronik der | |
Raumfahrtgeschichte zu entwerfen. | |
## Peng. Peng. Peng. | |
Immer wieder macht Matthias Senkel das verwickelte Leben der Familie, das | |
von Irrwegen und Umwegen gekennzeichnet ist, dabei zum Strukturprinzip | |
seines Romans. Es macht Spaß, diesen Formexperimenten zu folgen, und das | |
liegt nicht nur an dem trockenen, ironischen Ton des Erzählers, der die | |
Wahnwitzigkeit der Geschehnisse konterkariert. Oft schimmert darin eine | |
Bildhaftigkeit durch, die daran erinnert, dass Senkels Ursprünge in der | |
Lyrik liegen. Da treffen Augen, die „wie zwei ausgehungerte Spinnen in | |
einem Netz aus zarten, aber auch geltungssüchtigen Falten lauerten“, auf | |
„aspirinweiße Schwimmerinnenwaden“. Nur ein Beispiel von vielen. | |
Daneben steht ein Dialog mit literarischen Zitaten, die Senkel mal | |
explizit, mal subtil in seinen Text einarbeitet, um so seinen Vorbildern | |
Tribut zu zollen (unter anderem sind das Victor Pelevin, Thomas Pynchon, T. | |
S. Eliot und Robert Musil). Auch der Leser wird in diesen Dialog | |
einbezogen, vor allem in einem „vorgezogenen Alternativende“, das sich in | |
der Romanmitte findet. | |
Liest er weiter, findet er indes eine ausufernde Sammlung kurioser | |
Lebensläufe, die entweder für eine beachtliche Fantasie sprechen oder für | |
eine erstaunliche Fähigkeit, die obskursten Nachrichten aus aller Welt zu | |
sammeln – sei es ein Klavier für Katzen, das im Nachlass entdeckt wird, | |
oder seien es Menschen, die sich nach der Goethe’schen Farbenlehre | |
ernähren. Darin spiegelt sich auch die Sichtweise eines Erzählers wider, | |
dessen Blick auf die Mentalitätsgeschichte des 20. Jahrhunderts den Wahn | |
dieser Zeit nicht nur offenlegt, sondern auch noch zu einem skurrilen | |
Todeskabinett steigert. | |
Als Matthias Senkel 2009 mit seinem Text „Peng. Peng. Peng. Peng.“ den | |
Open-Mike-Literaturwettbewerb gewann, wurden nicht nur sein Witz und sein | |
Formbewusstsein gelobt, sondern auch gleich waghalsig „Wegweisendes“ für | |
die zukünftige Literatur vermutet. Auch in diesem Text behandelte er eine | |
Familiengeschichte, die auf ihren sieben Seiten immer wieder die eigene | |
Form reflektierte. Dass das damals nicht überladen und überambitioniert | |
wirkte, lag wohl auch an der Kürze des Textes. Bei seinem Roman droht das | |
zu einem Problem zu werden, das der Autor dann aber kurzerhand damit | |
behebt, dass er aufhört, wenn es genug ist. | |
So entgeht er der Gefahr, dass er zu dem verkopften Autor wird, über den er | |
sich in seinem Roman noch selbst mokiert: einer, „dessen Faible (oder | |
Manie) für verwinkelte Handlungen, mehrdeutige Fährten und Kurzschlüsse | |
zwischen den Realitätsebenen“ dazu führte, dass er „bis zum heutigen Tag | |
den Ausgang aus dieser Geschichte nicht gefunden hat“. Matthias Senkel kann | |
eben beides: Erzähllabyrinthe konstruieren und wieder auch aus ihnen | |
herausfinden. Schön. | |
■ Matthias Senkel: „Frühe Vögel“. Aufbau, Berlin 2012, 364 Seiten, 19,99 | |
Euro | |
2 Jun 2012 | |
## AUTOREN | |
ELISABETH FORSTER | |
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