# taz.de -- Die Hölle im Hunsrück | |
> VERZUG Vier Jahre nach einer Wallraff-Enthüllung muss sich ein | |
> Fabrikbesitzer vor Gericht verantworten | |
VON FELIX DACHSEL | |
Der Ort Stromberg im Hunsrück, eine halbe Autostunde entfernt von Mainz, | |
3.200 Einwohner, ist nicht ein Ort, an dem man die Hölle vermutet, außer | |
man hasst die Provinz generell: ein Stadtfest im Juni, zu Ehren des | |
deutschen Michel, eine Kirmes im Juli, zu Ehren von Apostel Jakobus, eine | |
Burg über der Stadt, die Stromburg, Johann Lafer kocht hier, ein | |
Gourmetmenü kostet 149 Euro. | |
Doch Stromberg kann die „Hölle“ sein. Es ist das Wort, das Menschen | |
benutzen, die hier gearbeitet haben. Ihre Hölle war eine unscheinbare | |
Fabrik am Stadtrand, die Gebrüder Weinzheimer Brot GmbH & Co. KG, 1897 | |
gewerblich angemeldet, 2010 geschlossen. Es ist Günter Wallraff zu | |
verdanken, dem Enthüllungsjournalisten aus Köln, dass diese Hölle nicht | |
unentdeckt blieb. Er schlich sich 2008 in das Unternehmen ein, das Bernd | |
Westerhorstmann gehört. Wallraff fand Verstöße gegen den Arbeitsschutz, | |
doch Westerhorstmann gelang es, den Prozess gegen ihn immer wieder zu | |
verzögern. Am nächsten Montag ist es so weit: Wallraff sagt als Zeuge vor | |
dem Amtsgericht Bad Kreuznach gegen Westerhorstmann aus. Der Vorwurf: | |
fahrlässige Körperverletzung. | |
Westerhorstmann produzierte in seiner Fabrik Aufbackbrötchen für Lidl. So | |
günstig, dass die Produktion auf Kosten der Angestellten ging. Wenn man | |
heute die Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft liest, bekommt man einen | |
Eindruck, wie das Unternehmen funktionierte: Westerhorstmann steckte viel | |
Druck und Verachtung hinein und bekam kleine Brötchen heraus. An den Wänden | |
wuchs der Schimmel. Er überwachte seine Angestellten mit Kameras, mahnte ab | |
und kommandierte. | |
Wenn Bernd Westerhorstmann durch seine Fabrik ging und mit Arbeitern | |
sprechen wollte, habe er mit Fingern auf sie gezeigt, erinnern sich | |
ehemalige Angestellte. Wenn ein Arbeiter aufmuckte, dann habe der | |
Geschäftsführer klargemacht, wie schnell er neue Arbeitskräfte bekäme, | |
schon an der nächsten Bushaltestelle würden sie warten. Wie Tiere habe | |
Westerhorstmann sie behandelt. | |
Ein anderer Arbeiter gibt bei der Polizei zu Protokoll, er sei bei seiner | |
Einstellung nicht über die Unfallgefahren aufgeklärt worden, schon nach | |
wenigen Tagen habe er Verbrennungen an den Armen erlitten. Eine andere | |
Angestellte berichtet in einer eidesstattlichen Erklärung von Verbrennungen | |
und Verletzungen. Im Verbandbuch der Fabrik werden mehrfach Schnittwunden | |
notiert, Platzwunden, Abschürfungen. Die Brötchenfabrik von Bernd | |
Westerhorstmann war eine unentdeckte Hölle der modernen Arbeitswelt, | |
umringt von rheinland-pfälzischer Idylle. | |
Bis Günter Wallraff auf den Betrieb aufmerksam wird. Er bewirbt sich mit | |
Perücke, versteckter Kamera und falscher Identität. Zwei Monate arbeitet er | |
in der Fabrik. Er dreht einen Film und schreibt eine Reportage. Er sichert | |
seine Geschichte mit eidesstattlichen Versicherungen ab. Wallraff | |
undercover – das bedeutet noch immer: maximale Öffentlichkeit. Anschließend | |
steigen die Löhne der Beschäftigten, einiges wird besser in der Fabrik. | |
Im September 2010 teilt Westerhorstmann mit, er sei „nach langer Prüfung | |
und Beratung“ zu dem Ergebnis gekommen, dass er den Betrieb aus | |
persönlichen Gründen nicht fortführen könne. Sein System der | |
Billigproduktion ist nach der Wallraff-Veröffentlichung kollabiert, man | |
kann das mit einiger Fantasie einen „persönlichen Grund“ nennen. | |
Bleibt nur noch die unabhängige Beurteilung des Falles durch ein Gericht in | |
einem öffentlichen Prozess. Eine Beurteilung, die sich jahrelang verzögert. | |
Im Oktober 2008 beantragen Westerhorstmanns Anwälte, das | |
Ermittlungsverfahren einzustellen. Westerhorstmann erstattet Strafanzeige | |
gegen Wallraff wegen Hausfriedensbruchs. In einem Schreiben seiner Anwälte | |
heißt es, die Verletzungen, die Wallraff in seiner Vernehmung vorweisen | |
konnte, habe er sich selbst zugefügt, nachdem seine Recherche nicht so | |
verlaufen sei wie gewünscht. | |
Am 17. September 2009 schickt das Amtsgericht Bad Kreuznach einen | |
Strafbefehl an Westerhorstmann. Er habe sich im Zeitraum von März 2007 bis | |
März 2008 der fahrlässigen Körperverletzung schuldig gemacht. Angeführt | |
werden fünf Zeugen, einer von ihnen ist Günter Wallraff. Westerhorstmann | |
soll 5.000 Euro an einen gemeinnützigen Verein zahlen. Seine Anwälte lehnen | |
allerdings jede Strafzahlung ab. In einem Schreiben verweisen sie darauf, | |
die Berichterstattung Wallraffs habe für Westerhorstmann und dessen Familie | |
schwerwiegendste Folgen. | |
Am 26. April 2010 beantragt Westerhorstmanns Anwalt, eine Ladung seines | |
Mandanten für zwei Termine im Juni 2010 aufzuheben. Westerhorstmann befinde | |
sich dann auf Teneriffa, zu der von ihm ausgerichteten Feier der silbernen | |
Hochzeit seiner Schwiegereltern. | |
Am 30. November 2011 verfasst Bernd Westerhorstmann in Puerto de la Cruz, | |
Teneriffa, eine eidesstattliche Versicherung. Er habe in seiner | |
zwanzigjährigen Tätigkeit regelmäßig Backbleche vom Ofen abgenommen. | |
Verbrannt oder verletzt habe er sich dabei nicht. | |
Westerhorstmann engagiert auch den Medienanwalt und Fernsehmoderator Ralf | |
Höcker, der in einem Zivilprozess vor dem Landgericht Köln gegen Wallraff | |
vorgehen soll, weil der öffentlich behauptet hatte, Westerhorstmann | |
entziehe sich der Gerichtsbarkeit. Vor Gericht mutmaßt Höcker, Wallraffs | |
Verbrennungswunden seien auf die Arbeit einer Maskenbildnerin | |
zurückzuführen. | |
Das Protokoll der polizeilichen Vernehmung Westerhorstmanns ist nur wenige | |
Zeilen lang, er zeigt sich darin ahnungslos über die Vorwürfe. Sein Anwalt | |
war für eine sonntaz-Anfrage nicht erreichbar. Eine ehemalige Angestellte | |
streitet sich per Anwalt mit Westerhorstmann um ihren Lohn. „Er ist so“, | |
sagt sie. „Er will uns ärgern.“ | |
2 Jun 2012 | |
## AUTOREN | |
FELIX DACHSEL | |
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