# taz.de -- berliner szenen: Trauben junger Menschen | |
Pepe streckt Zeige- und Mittelfinger in die Höhe, um der Kellnerin zu | |
signalisieren: Noch zwei Bier bitte. Unseren Plastiktisch räumt sie zwar | |
ab, zischt im Weggehen aber: Sie müssen sich selbst servieren. Ich erinnere | |
mich unwillkürlich an meine neue Zahnärztin, die mich vergangene Woche, | |
nachdem sie mir eingestand, ein paar meiner Zähne wahrscheinlich nicht | |
retten zu können, zur Prophylaxe verdonnerte. Ist die dann auch bei Ihnen, | |
fragte ich? Nein, das macht eine Assistentin. | |
Die Erinnerung an die Zurückweisung steht mir im Gesicht. Pepe lacht, kein | |
Problem, ich hole uns Nachschub. Dann schlüpft er der vermeintlichen | |
Kellnerin hinterher in die Innenräume des Café Tinto, das eigentlich ein | |
Späti ist, der aber durch die auf den breiten Gehsteig der ehemaligen | |
Belle-Alliance-Straße gestellten Tische und Stühle wie ein Pariser Bistro | |
anmutet. Die Straße ist zwar längst umbenannt, scheint sich aber trotz des | |
aktuellen spröddeutschen Namens immer mehr zu einem Party-Hotspot zu | |
entwickeln. Trauben junger Menschen in weißen Turnschuhen stapfen oder | |
rollen – elektronisch unterstützt – unterirdischen oder in Hinterhöfen | |
verborgenen Feierlocations entgegen. | |
Pepe kennt diese Balz nur zu gut. Er organisiert Lesungen in einem | |
Kreuzberger Projektraum, der sich jeden Montag zum Platzen füllt. Gerade | |
brütet er über einem Förderantrag und sucht meinen Rat. Aber eigentlich | |
will er nur reden: über Fogwill, einen Autor, der einen Roman über die | |
argentinischen Wehrdienstleistenden geschrieben hat, die im Krieg um die | |
Falklandinseln verheizt wurden; über die Berliner Hitze, die er als | |
Patagonier überhaupt nicht abkann. Dann bekommt er Hunger und wir ziehen | |
hangaufwärts, teilen in einem Restaurant in geschmolzenen Käse versenkte | |
Taco-Chips – fast brüderlich. Timo Berger | |
28 Sep 2022 | |
## AUTOREN | |
Timo Berger | |
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