# taz.de -- „Als Einstieg super Lösung“ | |
> Wie sieht eine Stadt aus, die vom Fahrrad her gedacht ist? | |
> Fahrrad-Professorin Martina Lohmeier über Pop-up-Radwege, gendergerechte | |
> Verkehrsplanung und ihre Bewunderung für Kopenhagen | |
Bild: Wie sieht eine Stadt aus, die nicht vom Auto her gedacht ist? | |
Interview Michael Schlegel | |
taz: Frau Lohmeier, seit anderthalb Jahren haben Sie eine Professur für | |
Mobilitätsmanagement und Radverkehr inne. Was sind die wichtigsten | |
Erkenntnisse, die Sie in der Zeit gewonnen haben? | |
Martina Lohmeier: Dass wir schon einiges wissen, vieles aber noch | |
unerforscht ist. In der Infrastrukturplanung, meinem Schwerpunkt, ist man | |
immer davon ausgegangen, dass Ingenieur:innen schon wissen, wie man | |
eine Straße, einen Radweg, einen Fußweg oder eine Brücke plant und baut. | |
Aber da spielen viele verschiedene Wissenschaften eine Rolle, von der | |
Verhaltensforschung über die Sicherheitsforschung zur Baustofftechnologie. | |
Auch große gesellschaftliche Themen wie Flächengerechtigkeit müssen mehr | |
erforscht und diskutiert werden. | |
Woran forschen Sie derzeit? | |
Wir haben drei Themenschwerpunkte. Erstens gendergerechtes Planen. Es ist | |
zum Beispiel so, dass unter Jugendlichen im Alter von 14 bis 17 Jahren mehr | |
Jungs als Mädchen mit dem Fahrrad fahren. Wir fragen uns, warum das so ist. | |
Liegt es daran, dass geschlechterspezifische Rollenmuster im Hinblick auf | |
die Mobilität schon in der Kindheit vorhanden sind? Oder daran, dass | |
Mädchen weniger sportlich aktiv sind als Jungen? Oder ist es eine Folge | |
davon, dass in der angewandten Stadt- und Verkehrsplanung mögliche | |
Bedürfnisse und Ansprüche der Gruppe von jugendlichen Mädchen bislang | |
(nahezu) nicht beachtet werden? Diesen Fragen wollen wir nachgehen und | |
haben dazu bereits ein Projekt erfolgreich durchgeführt und starten jetzt | |
das Folgeprojekt. | |
Und die anderen Schwerpunkte? | |
Unser zweiter Schwerpunkt ist die Zustandserfassung und -bewertung von | |
Radverkehrsinfrastruktur-Anlagen. Wie und wann muss man zum Beispiel | |
handeln, wenn eine Wurzel durch den Radweg bricht? Wie kann man so planen, | |
dass man die finanziellen Mittel passgenau zur Verfügung hat, um immer eine | |
gute und komfortable Infrastruktur zur Verfügung stellen zu können? Wir | |
fragen uns zudem, wie der Zustand unserer Bestands-Radverkehrsinfrastruktur | |
zu bewerten ist und welche Handlungsempfehlungen sich daraus ableiten | |
lassen. | |
Und drittens? | |
Drittens beschäftigen wir uns mit dem Verkehrsaufkommen und seiner Wirkung | |
auf Mensch und Natur. Konkret wollen wir uns dabei den Themen Emissionen | |
und Immissionen, wie zum Beispiel Feinstaub und Lärm, und ihren | |
Wechselwirkungen widmen. Dafür haben wir ein Mobilitätslabor aufgebaut und | |
mit entsprechender Erfassungstechnik ausgestattet, damit wir unsere | |
Fragestellung auch untersuchen und mit Daten belegen können. | |
Ist das restliche Studium auch so praxisnah wie das Mobilitätslabor? | |
In meinem Kernthema, Entwerfen von Infrastrukturanlagen, kann man schon im | |
Bachelorstudium anfangen, mit den Studierenden kritisch ins Gespräch zu | |
gehen. Ich schaue mir mit ihnen zum Beispiel eine öffentliche Straße mit | |
einer bestimmten Breite von Hauswand zu Hauswand an. Und dann frage ich: | |
Wie teilen wir den Straßenraum jetzt im Hinblick auf die verschiedenen | |
Verkehrsteilnehmenden vernünftig auf? Dazu gehören Pkw, Lkw, Bus, Bahn, zu | |
Fuß Gehende und Radfahrende. An diesem Beispiel kann man direkt | |
diskutieren, was es für den Straßenraum bedeuten würde, Fahrstreifen für | |
die Autos zu reduzieren. Was würde dies für den Radverkehr und was für den | |
Fußverkehr bedeuten? Welchen Einfluss hätte diese Entscheidung auf das | |
städtische Klima, wenn man plötzlich Platz für Bäume hätte und vieles mehr? | |
Im Masterstudiengang können wir das unterfüttern, indem wir sehr | |
praxisrelevante Themen im Detail bearbeiten. Dafür werden wir zum Beispiel | |
von einer Stadt gefragt, ob wir einen Verkehrsversuch begleiten möchten. | |
Ab Oktober wird es an Ihrer Hochschule den neuen Masterstudiengang | |
Nachhaltige Mobilität geben. Wieso trägt er nicht auch Radverkehr im Titel? | |
Es handelt sich um einen Kooperationsstudiengang. Eine | |
Kooperationspartnerin ist die Frankfurt University of Applied Sciences, wo | |
eine der anderen Stiftungsprofessuren, nämlich die von Professor Knese, | |
angesiedelt ist. Wir beide bilden zusammen im Wahlpflichtbereich den | |
Schwerpunkt Radverkehr aus. Man kann vier Wahlpflichtfächer nur zum Thema | |
Radverkehr wählen. Herr Knese lehrt Radlogistik und Intermodale Verknüpfung | |
und ich Entwurf und Radverkehrsmanagement. Unsere Kolleg:innen, die | |
ebenfalls im Master lehren, sind interdisziplinär aufgestellt. Sie lehren | |
zum Beispiel Mobilitätsmanagement, Verkehrsnachfragemodelle, | |
Einflussfaktoren des Mobilitätsverhaltens, Verkehrspolitik und vieles mehr. | |
Die beiden anderen Partner der Hochschule Darmstadt und der Technischen | |
Hochschule Mittelhessen machen das Studium rund, indem sie unter anderem | |
ihre Kompetenz im Hinblick auf ÖPNV-Infrastruktur und den | |
schienengebundenen Verkehr einbringen. So können wir den Umweltverbund als | |
Ganzes betrachten. | |
Die Ampelregierung hat versprochen, den Radverkehr bis 2030 besser und | |
sicherer zu machen. Wie bewerten Sie den Nationalen Radverkehrsplan? | |
Der Nationale Radverkehrsplan 3.0 ist nicht nur mit Fachmenschen und | |
Politikern entwickelt worden, sondern auch mithilfe einer breiten Befragung | |
der Bürger und Bürgerinnen. Es wurden die wichtigsten Leitziele beschrieben | |
und die Projektideen sind in der Regel an umsetzbare (Teil-)Projekte wie | |
den Bau einer Radverkehrsanlage etc. gekoppelt. Genau das brauchen wir. Wir | |
müssen mehr in die Fläche kommen und wir müssen auch Ideen ausprobieren | |
können, die vielleicht nicht sofort das Nonplusultra sind. Der Nationale | |
Radverkehrsplan 3.0 ist gut dafür geeignet, Erkenntnisse aus den Projekten | |
raus auf die Straße zu bringen. | |
Andere Länder sind schon deutlich weiter. In Kopenhagen wurden scon vor ein | |
paar Jahren 44 Prozent aller Strecken zur Arbeit oder Ausbildung mit dem | |
Fahrrad zurückgelegt. | |
Es steht ganz oben auf meiner Liste, dass ich demnächst mal mit meinen | |
Studierenden nach Kopenhagen fahre. Die Stadt ist einfach vom Fahrrad her | |
gedacht. Radfahrenden werden die erforderlichen Flächen konsequent zur | |
Verfügung gestellt. Es gibt dort so einfache Dinge wie zum Beispiel | |
Trittbretter an der Ampel, auf denen man sich mit dem Fuß abstützen kann | |
und deshalb gar nicht absteigen muss. Und es gibt überall die Möglichkeit, | |
das Fahrrad vernünftig und sicher abzustellen. Man hat Vorrang, wenn man | |
mit dem Fahrrad unterwegs ist, indem die Ampelschaltung entsprechend | |
angepasst wurde. So ist man auch wirklich schneller als mit dem Auto | |
unterwegs. Man muss nicht überlegen: Welche Strecke fahre ich denn jetzt, | |
damit es besonders sicher für mich ist? | |
In Deutschland musste erst eine Pandemie kommen, damit Städte wie Berlin | |
Pop-up-Radwege schaffen. Welchen Beitrag können solche improvisierten | |
Lösungen machen? | |
Das war als Einstieg eine super Lösung, und bereits vorhandene Konzepte | |
wurden in dieser Zeit clever genutzt beziehungsweise umgesetzt. Denn die | |
Coronapandemie hat dazu geführt, dass ganz viele Menschen das Bedürfnis | |
hatten, entweder mit dem Auto zu fahren oder aber vermehrt auch zu Fuß und | |
mit dem Rad unterwegs zu sein. Mutige Menschen haben diesen Moment genutzt | |
und Verkehrsversuche gestartet, um die Situation zu beobachten und zu | |
evaluieren. Ich gehe davon aus, dass man die Pop-up-Radwege noch weiter | |
ausbauen wird, und das ist eine wichtige Möglichkeit, den Radverkehr zu | |
stärken. | |
Auf dem Land wird das Rad noch seltener genutzt als in der Stadt. Wie kann | |
man dazu beitragen, auch auf dem Land das Fahrradfahren attraktiver zu | |
gestalten? | |
Das ist ein Thema, von dem ich hoffe, dass sich daraus bei uns noch ein | |
vierter Forschungsschwerpunkt ergibt. Radverkehr im ländlichen Raum kann | |
man nicht verallgemeinern. Bei uns im Darmstädter oder im Frankfurter | |
Umland beispielsweise gibt es viele Pendler, die wirklich mit ihren Rädern | |
und/oder Pedelecs unterwegs sind und auch längere Strecken von zehn | |
Kilometern oder mehr zurücklegen. Jugendliche steigen im ländlichen Raum | |
oft aufs Fahrrad um, weil sie damit flexibler sind und die Busverbindungen | |
oftmals schlecht sind. In anderen ländlichen Regionen sieht es aber wieder | |
ganz anders aus. In dörflich geprägten Gegenden ist es oft schwierig, den | |
Menschen zu sagen, dass sie morgens doch besser mit dem Fahrrad zum Bäcker | |
fahren sollen. Möglicherweise gibt es dort gar keinen Radweg, | |
möglicherweise ist der Bäcker aber eben nicht um die Ecke, sondern erst im | |
nächsten oder im übernächsten Dorf. Das Gleiche gilt für Schulen, Ärzte | |
oder andere Versorgungseinrichtungen. Das ist ein sehr umfangreiches und | |
spannendes Feld, was ich gerne aktiv erforschen möchte. | |
Welche Radthemen müssen sonst noch dringend erforscht werden? | |
Ich möchte voranbringen, dass Gender- und Flächengerechtigkeit in der | |
Verkehrsplanung mitgedacht wird. Dabei geht es nicht nur um das Fahrrad, | |
sondern auch um den Fußverkehr und insbesondere um mobilitätseingeschränkte | |
Menschen und ihre Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Es wäre toll, wenn | |
wir unser Verkehrsangebot so ausbauen können, dass man morgens aufsteht und | |
sich überlegen kann: Gehe ich heute zu Fuß, fahre ich mit dem Rad, brauche | |
ich heute ein Auto oder kann ich mit Bus und Bahn fahren? Und wenn man sich | |
dann sagt: Ich könnte alles nutzen und lasse das Auto stehen, wäre das | |
ideal. | |
3 Sep 2022 | |
## AUTOREN | |
Michael Schlegel | |
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