| # taz.de -- Vorbildwirkung von Prominenten: Täglich gut sein, 129 Jahre lang | |
| > Ob Karl May, Olaf Scholz oder Sanna Marin: Prominente müssen immer und | |
| > überall ohne Fehl und Tadel sein – sogar über das eigene Leben hinaus. | |
| Bild: Winnetou im Jahr 1965, verkörpert von Pierre Brice | |
| Wer in dieser Welt Gutes tun will, hat es nicht leicht. Ständig kommt etwas | |
| in die Quere und durchkreuzt die schönsten Pläne. Selbst der beste Vorsatz | |
| entpuppt sich als falsche Idee. Da willst du zum Beispiel den Deutschen | |
| erklären, was für kluge und edle Menschen die Indianer waren, denen viel | |
| Unrecht widerfahren ist, und schon 129 Jahre später wird dir vorgeworfen, | |
| du seist ein Rassist. Und dann haben deine Kritiker*innen auch noch | |
| Recht, weil es inzwischen andere, präzisere Worte gibt. Pech. | |
| Natürlich tut mir [1][Karl May] auch deshalb leid, weil es mir so ähnlich | |
| geht. Kaum nehme ich mir etwa zum Schulanfang vor, meinen Kindern das zu | |
| servieren, was ihnen schmeckt, werde ich vom Verpackungshinweis auf die | |
| Massentierhaltung verschreckt. Klar, auch das zu Recht. | |
| Aber ich habe mehr Glück als Karl May. Ich lebe im heutigen Kreuzberg, kann | |
| mich noch ändern und gemeinsam mit meinen Kindern lernen, dass der neu | |
| eröffnete Veganer nebenan mindestens genauso leckere Sachen hat wie Curry36 | |
| und die Dönerbude, die wir als lokalpatriotische Berliner sonst immer als | |
| Erstes nach dem Urlaub aufgesucht haben. Was mit denen geschieht, wenn | |
| keiner mehr hingeht, muss meine Sorge nicht sein, da soll sich der | |
| Wirtschaftsminister drum kümmern. Dafür ist er doch da. | |
| Aber Mist, für eine sozialökologische Umstellung auf nachhaltige Ernährung | |
| hat Robert Habeck im Moment leider keine Zeit. Der Mann, der sich | |
| vorgenommen hatte, Deutschland grün und fossilfrei zu gestalten, muss jetzt | |
| erst mal Kohle verfeuern und in Kanada um Frackinggas betteln, weil die | |
| Lieferungen aus Katar nicht reichen, um durch den Winter zu kommen. Ob es | |
| moralisch besser ist, aus fragwürdigen Quellen ganz weit weg Energie zu | |
| beziehen, als in Niedersachsen selbst nach Gas zu schürfen, bleibt das | |
| Geheimnis der Grünen. | |
| Dass Habeck gerade offen eingeräumt hat, nicht mehr zu wissen, was im Kampf | |
| gegen Putin wirklich richtig oder falsch ist und ob die Gasumlage auch für | |
| gut verdienende Konzerne bei näherer Betrachtung eine glänzende Idee war, | |
| ist ehren- und höchst lobenswert. Ich kann es ja auch nicht beurteilen, | |
| denn ich hatte schon wieder Glück und eine gute Ausrede: Dank einer | |
| Bindehautentzündung sind meine Augen dauernd verklebt und ich sehe die | |
| Weltlage nur noch verschwommen. Niemand kann von mir verlangen, unter | |
| diesen Umständen die Unterschiede zwischen Gut und Böse zu erkennen. | |
| Immerhin die deutsche Medienlandschaft kann ich noch schemenhaft | |
| wahrnehmen, und das beruhigt ganz ungemein. Denn ganz so schlimm scheint | |
| die Lage nicht zu sein, obwohl die Ukraine seit einem halben Jahr zerbombt | |
| und Europas größtes Atomkraftwerk von beiden Seiten als Schießbude genutzt | |
| wird. Mag sein, dass wir uns bald nach dem Fallout von Tschernobyl sehnen, | |
| als wir nur auf Pilze verzichten mussten. Bei spiegel.de war trotzdem der | |
| Aufmacher ein bitterböser Kommentar darüber, dass die korrekt | |
| PCR-getesteten Regierungsmitglieder [2][im Flugzeug nach Kanada keine | |
| Masken] trugen. Als ich abends sah, dass Rudolf Augsteins digitale | |
| Nachfolger keine anderen Sorgen haben, konnte ich endlich wieder mal gut | |
| schlafen. | |
| Und am nächsten Morgen wurde es noch besser: Während ich mir die | |
| verschmierten Augen rieb, begann auch schon eine tagelange Debatte um die | |
| spannende Frage, ob die finnische Ministerpräsidentin in ihrer Freizeit in | |
| Privaträumen leicht betrunken betont sexy tanzen sollte. Und das in diesen | |
| Krisenzeiten! Das sind Probleme, die vor allem bigotten Voyeuren Freude | |
| machen, aber auch dem Rest der Welt, weil sie die Krisen für einen Moment | |
| vergessen lassen. Was sich wohl auch [3][Sanna Marin] wünschte, bis sie | |
| Opfer einer Smartphone-Kamera-Enthüllung wurde. Dass es wirklich ernsthaft | |
| Kritik an ihrem Privatvergnügen gab, fand nicht nur Marin zum Heulen. | |
| Vielleicht wird sie aber jetzt auch noch beliebter. | |
| Zum Glück bin ich nicht prominent. Denn um dann als gut zu gelten, muss man | |
| sich 24 Stunden am Tag perfekt verhalten – mindestens 129 Jahre lang. | |
| 27 Aug 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Lukas Wallraff | |
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