# taz.de -- Das Adoptivkind selbst bleibt stumm | |
> Anna Kim beschreibt die „Geschichte eines Kindes“ und stellt die Frage, | |
> wie ein aktueller Roman von Rassismus und Zugehörigkeit erzählen kann | |
Von Anke Dörsam | |
Im Juli 1953 wird in Green Bay, einer Stadt mit überwiegend weißer | |
Bevölkerung in Wisconsin, USA, ein Kind zur Adoption freigegeben. Die | |
Mutter ist die alleinstehende 20-jährige Telefonistin Carol Truttmann, | |
deren Vorfahren aus Österreich und aus Deutschland in die USA eingewandert | |
sind. Der Vater ist unbekannt. Das Kind, das den Namen Daniel erhält, | |
entspricht nicht den Vorstellungen, wie ein weißes Kind auszusehen habe, | |
und die Identifikation des Vaters wird als notwendige Bedingung für die | |
weitere Bearbeitung des Falls angesehen: Die Rubrik im Formblatt für die | |
Adoption, welcher „Rasse“ das Kind angehöre, kann deshalb nicht ausgefüllt | |
werden. | |
Der Roman besteht aus zwei Strängen, einer davon eine Art Aktenbericht der | |
Geschichte dieses Kindes, chronologisch, in oftmals rassistischer Sprache. | |
Er ist typografisch in Schreibmaschinenschrift abgehoben und wechselt sich | |
mit erzählenden Teilen ab. Gerade im zeitlichen Abstand zu den | |
1950er-Jahren wird deutlich, wie wenig objektiv die vermeintlich neutrale | |
Berichtsprache ist, und wie stark die subjektive Wahrnehmung der | |
verantwortlichen Sozialarbeiterin, der aus Österreich stammenden Marlene | |
Winckler, die im späteren Verlauf des Romans stärker in den Vordergrund | |
rücken wird, die Geschichte des Kindes prägt. | |
„14. 09. 1953, Telefonat m. Dr. Denys: Der Intelligenzquotient des Kindes | |
wurde gemessen. Der Psychiater stellte zusammenfassend fest, dass dessen IQ | |
mit 120 überdurchschnittlich hoch sei. Für ein endgültiges Ergebnis bat er | |
darum, den zweiten Test abzuwarten. Zur Rasse des Kindes wollte er sich | |
nicht äußern. Dies sei bei Mischlingen oftmals problematisch.“ | |
Der andere Teil erzählt von Franziska, einer österreichischen Autorin mit | |
koreanischem Hintergrund, die während eines Aufenthaltes in Green Bay bei | |
Daniels Frau Joan zur Untermiete wohnt, während Danny selbst wegen eines | |
Schlaganfalls im Krankenhaus liegt. Dieser Teil ist atmosphärisch und | |
poetisch. Er bietet den Resonanzraum in der Gegenwart, und in den | |
Beobachtungen der Erzählerin eine Wärme, die dem kalten Ton der Berichte | |
gegenübersteht. | |
Beide Teile erzählen von der Stadt Green Bay, von den Vereinigten Staaten | |
in den 1950er-Jahren, dem Druck, der auf Carol als ledige Mutter ausgeübt | |
wird, generell von den Erwartungen ans Muttersein. Frauen, die Kinder | |
gebären, aber keine Mutter sein wollen, durchziehen den Roman. Viele | |
Themen, die aktuell in der Luft liegen, werden in diesem Roman neu erzählt. | |
Care-Arbeit. Herkunft. Die Frage nach Zugehörigkeit, aber auch Rassismus | |
und nicht zuletzt die Frage, wie wir von all dem erzählen. | |
Der Text macht es sich nicht einfach mit den Fragen, mit denen er sich | |
beschäftigt. Er gibt keine einfachen Antworten, nicht einmal die Fragen | |
sind einfach. Es sind Fragelinien, die sich kreuzen: Herkunft, das | |
Verhältnis vom Menschen und der Kultur, die ihn umgibt und den eigenen, | |
emotionalen Bedürfnissen, wie Nähe und Sicherheit. | |
Das Kind selbst, Danny, bleibt stumm. Der Bericht fasst nur | |
Außenwahrnehmungen über ihn zusammen. In der Gegenwartshandlung muss er das | |
Sprechen erst mühsam wieder erlernen. | |
Die Geschichte eines Kindes ist nur auf den ersten Blick die Geschichte des | |
zur Adoption freigegebenen Kindes Danny im Wisconsin der 1950er-Jahre. Es | |
ist die Geschichte der anderen, die mit ihm umgehen, die ihn einordnen | |
wollen, Ähnlichkeiten empfinden, Fremdheiten suchen. | |
Es ist zugleich auch die Geschichte des Kindes, das die Erzählerin war, | |
ihrer Kindheit als Tochter einer koreanischen Mutter und eines | |
österreichischen Vaters, ihrer Erfahrungen mit Rassismus, und der Frage | |
nach Zugehörigkeit, wo sie sich fremd fühlt, aber auch, wo sie als Fremde | |
betrachtet wird. | |
Die Fragen der Vergangenheit um Dannys erste Monate sind auch Fragen der | |
Gegenwart der Erzählerin, ihre Gedanken in dem Moment, in dem sie mehr von | |
Danny erfährt, beschäftigen sich mit Zugehörigkeit und den Abwertungen von | |
Rassismus, vermeintlich neutral festgehalten in den rassistischen | |
Erklärmodellen des Berichts-Teils, für die Leser*innen emotional und | |
atmosphärisch erlebbar dagegen in den Erlebnissen der Erzählerin. | |
„Wie konnte er glauben, bedingungslos dazuzugehören, ohne Einschränkungen, | |
ohne Auflagen –handelt es sich um Duldung? Oder ist Dazugehören die | |
Belohnung für eine Leistung? Nicht selten erscheint es als reine Willkür, | |
ob man uns einlässt, Danny und mich, und eingelassen werden müssen wir | |
jedes Mal aufs Neue. Honorary White. Ständig müssen wir unsere Loyalität | |
beweisen, unseren Wert, unsere Zugehörigkeit – “ | |
Oft enden Absätze ohne Punkt, schließt sich eine andere Perspektive im | |
nächsten Absatz an. Der Roman verwendet keine neutrale Erzählposition. | |
Vielleicht ist es das Interessanteste an dieser Erzählweise, wie sie mit | |
der Behauptung, alles sei gleich, umgeht. | |
Das Licht spielt eine große Rolle in diesem Roman, und wie es | |
unterschiedlich auf verschiedene Oberflächen fällt. Große Teile der | |
Gegenwartshandlung, in der die Erzählerin Franziska der Geschichte des | |
adoptierten Kindes, Danny, nachspürt, spielen im Winter. Der Schnee ist | |
eine Metapher des Weißseins, das über allem liegt, und das Franziska als | |
gleichmachendes Zudecken erlebt. | |
Wie schon in ihren vorigen Romanen wie dem im Jahr 2017 erschienenen Roman | |
„Die große Heimkehr“, erzählt Anna Kim, die 1977 in Südkorea geboren wur… | |
und als Kleinkind erst nach Deutschland, dann nach Österreich kam, das | |
Private und das Politische untrennbar miteinander verknüpft, und mit dem | |
Blick, der Vorannahmen überprüft, letztlich auch von der Kunst des | |
Hinschauens. | |
27 Aug 2022 | |
## AUTOREN | |
Anke Dörsam | |
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