# taz.de -- Schlimmer als Klimawandel | |
> Exkremente enthalten Phosphor, und der ist überlebensnotwendig für | |
> Pflanzen und Tiere. Doch anstatt unsere Ausscheidungen zu nutzen, stören | |
> wir die natürlichen Kreisläufe – mit fatalen Folgen | |
Mist hat einen guten Ruf: Jede Kleingärtnerin weiß, dass Gurken, Kohl, | |
Tomaten und Rhabarber damit üppiger wachsen. Scheiße dagegen erregt Ekel, | |
gilt als peinlich und gefährlich. Schon das Wort auszusprechen ist verboten | |
– und wo es gesagt wird, sind Wut oder radikale Abwertung im Spiel. Sobald | |
ein Mensch die „anale Phase“ im Kleinkindalter hinter sich gebracht hat, | |
sollen alle Ausscheidungen möglichst rasch und diskret verschwinden. So ist | |
die heutige Kultur. Dabei enthalten Urin und Kot genau wie Pferdeäpfel, | |
Kuhfladen und Hasenköttel wertvolle Stoffe. Zum Beispiel Phosphor, ohne den | |
kein Knochen wachsen und kein pflanzlicher Samen gebildet werden kann. | |
Seit es Leben auf der Erde gibt, wird Phosphor – genau wie Wasser und | |
andere Stoffe – wieder und wieder recycelt. Scheidet ein Organismus etwas | |
aus oder stirbt, sind seine Hinterlassenschaften Nährstoff für andere. | |
Bäuerinnen und Gärtner machen sich das seit Jahrtausenden zunutze, indem | |
sie Felder und Beete mit Kompost und Mist anreichern und so die | |
Fruchtbarkeit erhöhen. Die menschlichen Hinterlassenschaften gehörten | |
früher zu solch einem „Hoforganismus“ dazu. | |
Heute werden weltweit knapp 200 Millionen Tonnen Mineraldünger aus | |
Phosphor, Stickstoff und Kali pro Jahr auf die Felder gekippt. Europa ist | |
aktuell zu 90 Prozent von Importen von Phosphat abhängig, das aus | |
Lagerstätten im Bergbau abgebaut wird – und endlich ist. Die größten | |
Vorkommen gibt es in Marokko und der Westsahara, aber auch China, die USA | |
und Russland gewinnen große Mengen. Seit Russland im Zuge seiner Invasion | |
in die Ukraine auch einen Dünger-Exportstopp verhängt hat, sind die Preise | |
explodiert. | |
Doch was heute die Gemüter erregt, verdeckt die Sicht auf viel größere | |
Gefahren: Durch die industrielle Landwirtschaft und den Umgang mit unseren | |
Ausscheidungen sind die natürlichen Stickstoff- und Phosphorkreisläufe | |
unterbrochen. Inzwischen halten Wissenschaftler*innen die planetare | |
Tragfähigkeit in diesem Bereich für weiter überschritten als durch die | |
Erderhitzung. Doch für diese existenzielle Gefahr gibt es kaum | |
Aufmerksamkeit. | |
Nicht nur führt überschüssiger Kunstdünger zu erhöhtem Algenaufkommen in | |
Seen und Flüssen, erstickt dort Tiere und Pflanzen und lässt den Phosphor | |
im Meer schließlich unwiederbringlich zum Boden sinken. Die von den | |
Ackerpflanzen aufgenommenen Nährstoffe erreichen über pflanzliche und | |
tierische Lebensmittel unsere Teller, landen nach der Verdauung aber nicht | |
wie früher wieder in der Natur oder auf dem Feld, sondern in der | |
Kloschüssel. Für andere Lebewesen sind sie so nicht mehr verfügbar. Auch | |
eine andere Recyclingmöglichkeit für Phosphor wird kaum genutzt: Knochen | |
aus Schlachthöfen. Sie werden genau wie Klärschlamm verbrannt – und der | |
enthaltene Phosphor verschwindet so aus dem natürlichen Kreislauf. | |
Zwar wird immer klarer, dass hier etwas gründlich schiefläuft. Doch | |
Infrastrukturen, Berufsbilder, Gesetze, Institutionen und gesellschaftliche | |
Überzeugungen stabilisieren das „Weiter so“. Anstatt sich daran zu | |
orientieren, wie die Natur seit Milliarden Jahren erfolgreich mit | |
Stoffströmen verfährt – kleinteilig, vielfältig vernetzt, den regionalen | |
Bedingungen angepasst, dezentral und müllfrei –, hat die Menschheit in | |
ihrer Hybris technische Lösungen geschaffen, die den natürlichen | |
Gegebenheiten vermeintlich überlegen sind. So gilt es als Ausdruck von | |
Zivilisation, in eine strahlend weiße Keramikschüssel zu kacken und das | |
Ganze mit frischem Wasser zu „entsorgen“. Leute, das ist doch einfach | |
Scheiße. | |
30 Jul 2022 | |
## AUTOREN | |
Annette Jensen | |
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