# taz.de -- Hilfe nach der Hilfe | |
> Für in Heimen aufgewachsene Menschen stellt der Übergang ins | |
> Erwachsenendasein eine besondere Herausforderung dar. Wie er gelingen | |
> kann, wird in Hildesheim erforscht | |
Von Katja Spigiel | |
Erwachsen und unabhängig von den Eltern sein, auf eigenen Beinen stehen, | |
eigene Entscheidungen treffen: Sehnsüchte, die viele Jugendliche teilen. | |
Und selbst wenn es im Jugendalter mal zu Reibereien gekommen ist, können | |
sich die meisten doch auf den Rückhalt ihrer Familie verlassen. Für | |
Menschen, die in Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen aufgewachsen sind, | |
trifft das nicht zu. Mit dem Erreichen des 18. Lebensjahres verlassen viele | |
von ihnen die stationären Erziehungsangebote – deutlich jünger also als die | |
rund 24 Jahre, mit denen laut Eurostat Menschen im Durchschnitt aus dem | |
Elternhaus ausziehen. | |
„Bei der Entlassung aus stationären Erziehungshilfen ist man lange so | |
vorgegangen wie bei einer Krankenhausentlassung oder einer Entlassung aus | |
der Haft. Was danach passiert, war lange nicht im Fokus“, sagt Severine | |
Thomas. In ihrer Arbeit setzt die wissenschaftliche Mitarbeiterin am | |
Institut für Sozial- und Organisationspädagogik an der Universität | |
Hildesheim sich unter anderem mit dem Übergang junger Menschen aus | |
stationären Erziehungshilfen auseinander. Dazu gehören Wohngruppen und | |
-heime; auch Pflegefamilien fallen in Deutschland unter diese Kategorie. | |
Ein Schlagwort, das die Lebensrealität derjenigen beschreiben soll, die für | |
eine gewisse Zeit in öffentlichen Erziehungshilfen gelebt haben, etabliert | |
sich gerade: Leaving Care, also das Verlassen des Versorgtwerdens; | |
Betroffene können dementsprechend als Care Leaver*innen bezeichnet | |
werden. Laut Thomas soll die Bezeichnung das Thema stärker auf den Plan | |
bringen. Das spiegele sich auch in der Jugendhilfe vor Ort wider: Zusammen | |
mit weiteren Wissenschaftler*innen der Universität Hildesheim sowie | |
Partner*innen von der Internationalen Gesellschaft für erzieherische | |
Hilfen (IGfH) identifizierte Severine Thomas „Baustellen“ auf kommunaler | |
Ebene, die dann in einem acht Punkte umfassenden Positionspapier | |
zusammengefasst wurden. | |
Eine Erkenntnis: Es reiche nicht aus, wenn sich einzelne Organisationen der | |
Jugendhilfe darum bemühten, bessere Übergänge zu schaffen. „Wir haben ein | |
versäultes Sozialrechtssystem“, sagt Thomas, „das insbesondere jungen | |
Menschen oft auf die Füße fällt.“ So seien Kindergeld, | |
Ausbildungsunterstützung, Halbwaisenrente und Hilfen vom Jobcenter | |
Teilleistungen, die junge Menschen beanspruchen könnten, dafür aber zu | |
unterschiedlichen Behörden gehen müssten. Stattdessen müsse ein | |
„Unterstützungsnetzwerk“ her. | |
Nun also konkrete Handlungsleitlinien mit Hildesheimer Handschrift. So | |
müsste es auf institutioneller Ebene Möglichkeiten zur Mitbestimmung und | |
Beschwerde für die jungen Menschen geben, sagt Thomas; deren Anliegen | |
würden noch zu wenig gehört. | |
Grundlage für das Positionspapier ist das Kinder- und Jugendstärkungsgesetz | |
(KJSG). Es ist im Juni 2021 in Kraft getreten und kann als Reform des | |
vorausgegangenen Kinder- und Jugendhilfegesetzes begriffen werden. Für | |
Thomas beinhaltet das KJSG vielversprechende Ideen. Allerdings: „Ein Gesetz | |
ist immer nur so gut, wie es umgesetzt wird.“ Dabei steht die Umsetzung im | |
Koalitionsvertrag und damit auf der politischen Agenda der Bundesregierung. | |
„Es hakt schon daran, gut informiert zu sein“, sagt die Wissenschaftlerin. | |
Die Betroffenen, aber auch Fachkräfte seien oft nicht genügend über | |
geltende Regularien informiert. Beispielhaft nennt Thomas die Meinung, dass | |
Hilfseinrichtungen mit 18 Jahren verlassen werden müssten. Anspruch auf | |
Jugendhilfe bestehe aber bis zum 21. Lebensjahr, teilweise sogar darüber | |
hinaus. Laut dem Positionspapier müssen auch für die Nachbetreuung von Care | |
Leaver*innen neue Strukturen geschaffen werden – so ist es auch im | |
Gesetz erwähnt. | |
Als Schnittstelle zwischen der Entlassung aus der Jugendhilfe und dem Start | |
in ein neues Leben versteht sich die Beratungsstelle „AufKurs!“ in | |
Hannover. Für Menschen zwischen 18 und 25 Jahren, die niemanden haben, | |
der*die ihnen bei Antragstellung, Wohnungssuche oder sonstigen | |
bürokratischen Hürden hilft, steht die Tür hier offen. Die Hälfte der | |
Hilfesuchenden sind Care Leaver*innen. Zur Erarbeitung der acht Baustellen | |
standen Thomas und Kolleg*innen in engem Kontakt mit dieser und ebenso | |
weiteren Beratungsangeboten in ganz Deutschland. | |
Die Behörden befänden sich derzeit in einem „Zwischenstadium“, so Thomas: | |
Sie wüssten, dass sie einen gesetzlichen Auftrag haben und Strukturen | |
umdenken müssten. Andererseits habe sie „den Eindruck, dass Jugendämter bei | |
jungen Erwachsenen glauben, dass sie nicht ganz so stark unter | |
Handlungsdruck stehen“. | |
Diesen Eindruck teilt Alina Wagner von „AufKurs!“. Die Sonderpädagogin | |
berichtet, dass viele Care Leaver*innen schlechte Erfahrungen in der | |
Jugendhilfe gemacht hätten. Für die Selbstständigkeit fühlten sie sich | |
nicht vorbereitet, weshalb sie sich Hilfe anderweitig organisieren würden. | |
„Diese jungen Menschen sind unsichtbar“, sagt Wagner, „sie müssen abgeho… | |
und in das System eingebettet werden. Sie wollen ja auf eigenen Beinen | |
stehen.“ | |
„AufKurs!“ gibt es seit Oktober 2019. Offenbar hat sich das Angebot | |
herumgesprochen: Inzwischen kommen junge Menschen auch aus anderen Teilen | |
Deutschlands. Neben einer Postanschrift, nötig für Anträge und | |
Hilfeleistungen, gibt es ein psychotherapeutisches Angebot, eine | |
Sprechstunde mit einer Mitarbeiterin des Jobcenters, Internetzugang und | |
regelmäßig Mahlzeiten. | |
Severine Thomas sagt, dass ihr in Deutschland keine Kommune bekannt sei, | |
die alle Hilfen für junge Menschen unter einem Dach anbiete. „Hilfe aus | |
einer Hand“, das sei der Auftrag. Bis 2028 soll der erfüllt werden. Bis | |
dahin gilt es, das KJSG umzusetzen. Auf dem Weg dorthin seien | |
Übergangsmodelle geplant. Den Beteiligten der Hilfsstrukturen sei bekannt, | |
dass Prozesse in Gang kommen müssten. Noch sei der Motor aber nicht überall | |
angesprungen. | |
25 Jul 2022 | |
## AUTOREN | |
Katja Spigiel | |
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