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# taz.de -- „Der Krieg fühlt sich weit weg an“
> Unsere Autorin studiert in Lwiw und arbeitet als Freiwillige. Kürzlich
> bekam sie ADHS diagnostiziert. In den vergangenen Monaten seien
> erstaunliche Dinge entstanden, schreibt sie
Bild: Das Abkleben der Scheiben soll vor Splittern schützen
Aus Lwiw Alma L.
Alma L. ist 21 Jahre alt und kommt aus Czernowitz, einer Stadt nahe der
Grenze zu Rumänien. In Lwiw studiert sie an einer katholischen Universität
Politikwissenschaft, Wirtschaft und Ethik. In den letzten Monaten leistete
sie unterschiedliche Freiwilligenarbeit. In den Notizen aus dem Krieg
berichtet sie seit Kriegsbeginn von ihren Eindrücken und Gedanken. Anna L.
heißt in Wirklichkeit anders. Um ihre Familie und ihre Freunde zu schützen,
will sie ihren echten Namen nicht veröffentlichen.
Im letzten Monat ist das Leben in Lwiw wieder etwas ruhiger geworden.
Nachdem sich die Russen aus Kiew zurückgezogen hatten, verstärkten sie ihre
Angriffe auf die östlichen Städte. Ich half einer NGO dabei, eine weitere
Welle von Menschen aus dem Osten zu evakuieren.
Kurze Zeit später ist die Zahl der Anfragen wieder zurückgegangen. Ich
nutzte diese Zeit, um eine Website für die Organisation zu erstellen. Ich
habe mich dann entschieden, die Freiwilligenarbeit etwas herunterzufahren
und nicht mehr Vollzeit, sondern nur noch nebenbei als Freiwillige zu
helfen. In der Zeit habe ich mich auch entschieden, einen Psychiater
aufzusuchen. Vor einem Monat bekam ich die Diagnose ADHS. Das Medikament,
das mir verschrieben wurde, ist nur schwer erhältlich. Ein Freund hat mir
dann geholfen, es zu bekommen.
Am Anfang verursachte es bei mir aber eher Nebenwirkungen als eine
Verbesserung. Ich war zwei Wochen lang ziemlich desorientiert. Ich bin aber
glücklich, dass ich Hilfe bekommen habe. Ich bin oft überwältigt und kann
mich nur schwer konzentrieren, weswegen ich mich immer mehr von der
Außenwelt isoliere.
Seit vier Tagen versuche ich, einen Freund zu unterstützen, der NGOs mit
systematisierten Informationen hilft, eine Infrastruktur aufzubauen. Schon
in der ersten Woche des Kriegs sind Plattformen und Bots entstanden, die
Spendensammlungen, Freiwilligenarbeit und die Versorgung der Front mit
grundlegenden Dingen wie kugelsicheren Westen koordinieren. Ein großer Teil
dieser Arbeit ist reine Bürokratie.
Einige der Menschen, die wir vor zwei Monaten nicht aus der Ukraine nach
Italien evakuieren konnten, schreiben mir immer noch. Ihr Dorf in der Nähe
von Tschernihiw im Norden der Ukraine war zum Zeitpunkt der Evakuierung
besetzt, die Minen wurden erst vor kurzem geräumt. Auf der Straße kann man
jetzt zumindest sicher fahren. Aber es gibt nicht mehr zehn verschiedene
Organisationen, die die Leute am Bahnhof abholen.
Wieder einmal fühlt sich der Krieg weit weg an, auch wenn 20 Prozent des
Gebiets besetzt sind. Am 30. Mai beschrieb die Nachrichtenagentur Reuters
das besetzte Cherson als prorussisch und sprach von Getreideexport, obwohl
das Getreide nach Russland verfrachtet wurde (die Schlagzeile wurde
inzwischen geändert). Ich wünschte, Reuters hätte das Video gesehen, in dem
Menschen aus ihren Fenstern ukrainische Volkslieder singen.
Eine Freundin von mir ist Sängerin. Sie sagte einmal, dass die Vögel am
Morgen singen, um anderen mitzuteilen, dass sie die Nacht überstanden
haben.
## Umdenken
Ich war gestern 21 Stunden lang wach, um mein Forschungsprojekt rechtzeitig
fertigzustellen. Ich mag es, allein und fokussiert an etwas zu arbeiten.
Der ständige Kontakt mit Menschen in der Freiwilligenarbeit hat mich immer
sehr erschöpft. Ich verbringe aber auch jetzt kaum Zeit damit, für
Prüfungen zu lernen, weil sie mir irrelevant erscheinen.
Ein Freund von mir empfindet das auch so. Er ist Projektleiter in einer
IT-Firma. Seine Firma ist schon wieder in den Arbeitsmodus aus der Zeit vor
dem Krieg übergegangen. Er hat jetzt also zwei Vollzeitbeschäftigungen –
die Freiwilligenarbeit und seine Arbeit in der Firma.
Das Haus meiner Freundin im Bezirk Luhansk wurde zerstört, als sie in Kiew
war. Ihre Mutter ist in die besetzten Gebiete geflohen und kommt von dort
nicht mehr weg. Sie ist Ärztin, aber alle Dokumente, die ihre Ausbildung
und ihre Berufserfahrung belegen, wurden zerstört. Sie hilft jetzt dort der
Zivilbevölkerung.
Menschen sind in der Lage, auf sehr sinnvolle Weise auf Stress zu
reagieren. Vieles wurde ihnen genommen – ihre Routine, ihr Zuhause, ihre
Lieben – aber nicht ihre Menschlichkeit, ihre Fähigkeit, mit jeder
Situation umzugehen. Meine Freundin erzählte mir, wie ausländische
Journalisten, mit denen sie zusammenarbeitete, sie bemitleideten, weil ihr
„die Jugend genommen wurde“. Bis jetzt haben uns acht Jahre Krieg und eine
Pandemie nicht gebrochen. Kann das überhaupt sein?
## Medizin
Das erste Medikament, dass ich für meine diagnostizierte ADHS verschrieben
bekommen habe, hat mich emotional sehr negativ beeinflusst. Jetzt versuche
ich ein anderes. Ich hoffe, dass es mir helfen wird, damit umzugehen, dass
ich ständig mit allem im Rückstand bin.
## Stahlwerk
Es ist jetzt drei Wochen her, dass die Leute aus dem Azowstal-Werk zu
Kriegsgefangenen wurden. Meine Freundin hat eine Nachricht gepostet, die
sie von einem der Gefangenen erhalten hat – einem Mechaniker. Er sagte:
„Das ist die Nummer meiner Frau. Bitte bleiben Sie mit ihr in Kontakt,
falls Gott mich von dieser Erde nimmt.“ Sie startete eine Spendenaktion, um
seiner Familie zu helfen. Seine Familie ist aus Mariupol geflohen und hat
jetzt nichts mehr. Hilfsorganisationen haben sehr lange Wartelisten, und
für eine Unterkunft müssten sie Miete zahlen, wofür sie kein Geld haben.
In russischen Nachrichten heißt es, dass 2.500 Soldaten wegen
Kriegsverbrechen vor Gericht gestellt werden sollen. Welche das sein
sollen, ist unklar. Sie haben die Einwohner der Stadt unter Einsatz ihres
Lebens verteidigt.
## Nationalismus
Menschen außerhalb der Ukraine fühlen sich vom Nationalismus abgestoßen,
weil er in ihrer Erinnerung für die schmerzhafte Geschichte Europas steht.
Für die Ukrainer bedeutet Nationalismus aber, die Dinge zu verteidigen,
für die andere Nationen nicht kämpfen mussten: das Recht, unsere Sprache zu
sprechen, das Recht, unsere Feiertage zu feiern, freie Menschen zu sein und
nicht die Leibeigenen der vielen Länder, die die Ukraine besetzt haben.
Nur wenige Menschen außerhalb der Ukraine wissen, dass die Säulen der
ukrainischen Nation von einem Ukrainer, einem Polen, einem Ukrainer
polnischer Abstammung, einem jüdischen Ukrainer und einem Mann
italienischer Abstammung gelegt wurden.
## Freiheit
Unser Hauptunterschied zu Russland ist nicht die Sprache (obwohl Ukrainisch
und Russisch lexikalisch etwa so ähnlich sind wie Deutsch und
Niederländisch), die nationale Kleidung oder das Essen. Diese Dinge
handhaben auch wir Ukrainer unterschiedlich. Was uns eint, ist unsere
Auffassung von Politik. Als ich vier Jahre alt war, wurde ich zum ersten
Mal zu einer Demonstration mitgenommen – der sogenannten Orangenen
Revolution, die zur Neuwahl des Präsidenten führte.
Ich möchte in einem Land leben, in dem so etwas möglich ist, in einem Land,
in dem die Regierung mit ihren Bürgern über die Politik diskutiert. Diese
Freiheit bedeutet viel Arbeit, aber diese Freiheit nicht zu haben, ist ein
Albtraum. Ich akzeptiere, dass die Russen nicht so leben. Sie sagen, dass
sie keine Macht haben, dass man weder sein Heimatland noch den Präsidenten
wählen kann. Ich bin halb Russin und habe beides gewählt, meine
Nationalität und den Präsidenten.
## Studium
Ich habe morgen eine Prüfung, aber ich habe wieder mehr Freiwilligenarbeit
gemacht als zu lernen. Die Prüfung ist für einen Kurs, in dem es um
internationale Organisationen geht. Nachdem ich die Arbeit dieser
Organisationen seit Beginn des Kriegs in der Ukraine gesehen habe, habe
ich wenig Lust, etwas über ihre Funktion zu lernen, die diesen Horror nicht
verhindern konnte. Damit will ich nicht sagen, dass internationale
Organisationen wertlos sind, aber sie sind zu groß und agieren
schwerfällig. Es macht nur Sinn, sie zu analysieren, wenn sie in Zukunft
reformiert würden.
## Lyrik
Absolventen des Austauschprogramms, an dem ich teilgenommen habe, wollen
Gedichte ukrainischer Autoren veröffentlichen. Ich werde meine Gedichte
durchgehen und schauen, ob eines davon es wert ist, veröffentlicht zu
werden. Ich glaube es zwar nicht, aber es macht gerade auch keinen Sinn,
mich abzuwerten und weiter zu isolieren.
Im Krieg ist jeder in erster Linie für sich selbst verantwortlich, und
schon die kleinsten Anstrengungen, um zu funktionieren, zählen. Es ist ein
unsicherer Kampf. Es ist nicht klar, was man tun soll oder kann, ob man
Flüchtende unterstützt, offene Briefe an NGOs schreibt, mit Medien spricht,
einfach nur seinen Job macht oder Gedichte schreibt. All diese Dinge haben
in den letzten drei Monaten zu erstaunlichen Ergebnissen geführt.
## Kraft
Ich habe gesehen, wie Menschen von der Front zurückkamen und ihre
Masterarbeit erfolgreich verteidigten. Ich sage mir, dass es immer jemanden
gibt, der mehr kann, aber das heißt nicht, dass man selbst nichts tun kann.
Eine junge Frau in Lwiw fertigt Ringe aus winzigen Perlen und verkauft sie.
Den Erlös spendet sie an das Militär. Es ist nicht viel, aber es ist
ehrliche Arbeit. Die Gewalt mag überwältigend sein, aber es gibt niemanden,
der sie aufhalten kann – außer wir selbst.
Aus dem Englischen
von Sara Rahnenführer
Auf dieser Seite schreiben regelmäßig Ukrainerinnen und Ukrainer über ihre
Erfahrungen im Krieg.
11 Jun 2022
## AUTOREN
Alma L.
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