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# taz.de -- berliner szenen: Preußens Kilometer null
Monate hatten wir uns nicht gesehen. Sein Vater starb unerwartet, meiner
nach langer Agonie. Delta, Omikron, Treffen wurden verschoben. Schließlich
der Spaziergang. Sergio stand am belebten Ende der Papestraße. Wir nahmen
den Weg über das Parkdeck des nahen Bahnhofs. Querten die Autobahnbrücke.
Kampfradlern ausweichend gelangten wir zu verwilderten Rangiergleisen.
Stapften über Schwellen, aus denen Birken emporschossen, und bewunderten
ausschwärmende Libellen.
Das Gespräch kreiste um biografische Veränderungen, Neuanfänge. Sergio
hatte einen Minijob angenommen in der Nähe des Großmarkts: dreimal die
Woche früh aufstehen, in die Ringbahn steigen, wenn die Partyschwärmer noch
alkoholisiert nach Hause schunkeln; man kenne sich inzwischen, nicke
Bauarbeitern, Sekretärinnen zu. Ab 5 Uhr die Trauben aus dem Ankauf
kontrollieren, abschneiden, was schimmelt, nachreifen lassen, was noch
grün, das andere schnell wieder in die Kühlung, rattert Sergio seine
Jobbeschreibung herunter.
Wir stehen auf der Brücke in der Siedlung Lindenhof, er reißt die Augen
auf. Wie das Viertel sein Antlitz wechselt! Ich deute auf die
zurückgeschnittenen Seerosen, im Herbst ist der Pfuhl voll damit. Wir
folgen den landschaftlichen Überresten der Eiszeit. Sergio lobt den Stier,
der als Skulptur über der Blanken Helle thront. Ein letzter Aufstieg zur
Mariendorfer Höhe. Der Weg ist abgesperrt, wir schlüpfen durch den Zaun.
Oben am zugewachsenen Aussichtspunkt, der Stein der trigometrischen
Messung. Preußens Kilometer null war hier, sage ich. Und denke, wie
angeberisch ich klinge, wo ich das gerade selbst von der Tafel abgelesen
habe. Beim Italiener „im Tal“ bestellen wir unisono Carbonara. Und wehren
uns erfolglos gegen den Amaretto aufs Haus. Timo Berger
7 Jun 2022
## AUTOREN
Timo Berger
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