# taz.de -- Nicht einfach nur Privatsache | |
> Zwei Bücher analysieren die Profite, die auf Kosten der Gesundheit | |
> gemacht werden | |
Von Annette Jensen | |
Fast gleichzeitig sind zwei Bücher erschienen zum Thema | |
Ernährungsindustrie. Beide setzen sich kritisch mit Nestlé & Co | |
auseinander. Trotzdem doppeln sie sich nur wenig und vermitteln zusammen | |
einen sehr guten Überblick, wie krank unser Ernährungssystem viele Menschen | |
macht. Damit holen die Autor*innen ein wichtiges Thema aus dem toten | |
Winkel. | |
Wilfried Bommert und Christina Sartori beschreiben in „Stille Killer. Wie | |
Big Food unsere Gesundheit gefährdet“ den Konzentrationsprozess in der | |
Lebensmittelwirtschaft. Viele Convenience-Produkte enthalten große Mengen | |
Zucker als billige Füllmasse. Vor allem Sirup aus Maisstärke behindert das | |
Sättigungsgefühl. So nehmen viele Menschen durch hochverarbeitete | |
Lebensmittel große Kalorienmengen zu sich. 40 Prozent der Weltbevölkerung | |
sind inzwischen übergewichtig oder sogar adipös. Das bedeutet Leid für die | |
Betroffenen und verursacht hohe volkswirtschaftliche Kosten. | |
Gerade in armen Weltregionen, wo viele Menschen im Kindesalter unterernährt | |
sind, wirken sich solche Lebensmittel im Erwachsenenalter fatal aus. | |
Bommert und Sartori beschreiben kenntnisreich und durch viele Quellen | |
belegt, wie die Konzerne durch Werbung, Lobbyarbeit und gekaufte | |
Wissenschaftler*innen ihren Umsatz weiter erhöht haben. Dass es | |
Möglichkeiten gibt, politisch gegenzuhalten, zeigt Chile: Dort gibt es | |
strenge Werbebeschränkungen für Junkfood, ein Verkaufsverbot für | |
zuckerhaltige Softdrinks an Kinder, und auch aus den Schulküchen wurden | |
Fertigprodukte verbannt. | |
In Deutschland dagegen verhinderte Ex-Landwirtschaftsministerin Julia | |
Klöckner alle verbindlichen Vorgaben. Am Schluss gibt das Buch Hinweise auf | |
Veränderungsmöglichkeiten auf allen Ebenen. In München hilft ein Projekt | |
übergewichtigen Kindern, Nein zum Schokoriegel zu sagen. Um den Konzernen | |
auf juristischer, politischer und gesellschaftlicher Ebene beizukommen, | |
empfiehlt das Autorenduo, die Erfahrungen im Umgang mit der | |
Tabakindustrie zu nutzen. | |
Martin Rückers Werk „Ihr macht uns krank. Die fatalen Folgen deutscher | |
Ernährungspolitik und die Macht der Lebensmittellobby“ legt den Fokus auf | |
konkrete Lebensbereiche. Der frühere Foodwatch-Geschäftsführer hat in | |
Krankenhäusern, Pflegeeinrichtungen und Schulen recherchiert, aber auch in | |
Schlachthöfen und bei der Lebensmittelkontrolle. Vieles erscheint für den | |
gesunden Menschenverstand absurd. So spielt Ernährung in der | |
Medizinerausbildung keine Rolle, derweil es der Zucker- und | |
Fast-Food-Industrie erlaubt ist, zahlreiche Professuren zu stiften. Auch | |
die personellen Verflechtungen zwischen Verbänden, Politik und Industrie | |
nimmt Rücker auseinander. | |
Obwohl ganz klar ist, dass die Hartz-IV-Sätze nicht für eine ausgewogene | |
Ernährung reichen und mangelnder Bildungserfolg auch mit einer | |
Fehlversorgung in entscheidenden Lebensphasen zu tun hat, gilt Essen als | |
Frage der Eigenverantwortung. | |
Dass viele Politiker*innen und die Bild-Zeitung Essen zur | |
Privatsache erklären – Stichwort Veggie-Tag –, kommt den Konzernen | |
entgegen: Nicht die Wirtschaft erscheint als verantwortlich für die | |
Verfettung der Bevölkerung, sondern die undisziplinierten | |
Konsument*innen, die sich einfach zu wenig bewegen. Und mit Diäten und | |
Magenverkleinerungen lässt sich dann ja auch wieder gutes Geld verdienen. | |
Rücker macht am Ende Vorschläge, die sich wie Empfehlungen an die | |
Ampelregierung lesen: Zuckersteuer, verbindliche Kennzeichnung der Produkte | |
und die Einrichtung von Bürgerräten. Sein Fazit: „Ernährungspolitik muss | |
gänzlich neu gedacht werden.“ Die beiden Bücher bieten dafür eine gute | |
Grundlage. | |
4 Jun 2022 | |
## AUTOREN | |
Annette Jensen | |
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