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# taz.de -- Die eine Welt erschaffen
> Der Mediävist Michael Borgolte hat die erste Globalgeschichte und damit
> eine Neubestimmung des Mittelalters vorgelegt
Von Micha Brumlik
Geschichten lassen sich keineswegs nur von und über Personen erzählen –
nein, auch Gebäude, Gegenstände, Kunstwerke und sogar geografische Räume
weisen einen Ablauf in der Zeit auf, über den sich Geschichten erzählen
lassen. Aber auch die Analyse der Gegenwart kann sich auf anderes beziehen
als auf handelnde Personen oder Institutionen, nämlich auf Räume: anders
wäre nicht zu verstehen, warum heute beinahe alle Gesellschaftsanalysen vom
Paradigma der „Globalisierung“ ausgehen.
Das zugrundeliegende Problem hat bereits Richard Wagner in seinem
„Parsifal“ genannt, als Gurnemanz zu Parsifal sagt: „Du siehst mein Sohn,
zum Raum wird hier die Zeit.“ In diesem Sinne hat nun der in Berlin
lehrende Mediävist Michael Borgolte ein Opus magnum vorgelegt, das noch auf
lange Zeit unüberholt bleiben wird: eine Globalgeschichte jener tausend
Jahre, die wir als „Mittelalter“ zu bezeichnen gewohnt sind – also eines
Zeitraums der etwa vom Untergang des Römischen Reiches bis zur Entdeckung
Amerikas reichte.
Dabei kommt es Borgolte vor allem darauf an, nachzuweisen, dass das
Mittelalter eben nicht nur jenes „christliche Abendland“ darstellt, das die
Älteren von uns noch so in der Schule vermittelt bekamen, sondern dass es
sich von Anfang an – also nach dem Untergang des Römischen und des
oströmischen Reiches – über einen Raum erstreckte, den Borgolte als
„Eufrasien“ bezeichnet: Europa, das nördliche Afrika sowie Kleinasien bis
nach Arabien – eine Region, die sich vom heutigen Spanien bis in den
östlichen Mittelmeerraum erstreckt.
Diese geografischen Räume waren sehr viel enger miteinander vernetzt als
bisher wirklich bekannt – geografische Räume, die von der Existenz großer
Reiche geprägt wurden: „Ausdehnung, Menge und Streuung der Imperien in den
drei zusammenhängenden Kontinenten Asien, Afrika und Europa“, so Borgolte,
„lassen deshalb ein Urteil über den Grad von ‚Globalisierung‘ zu …“
Im Einzelnen kann Borgolte dann nachweisen, dass und wie nicht zuletzt
Religionen, vor allem das Christentum, der Islam und sogar das zahlenmäßig
sehr viel geringere Judentum zu Treibern dieser Globalisierung wurden –
Treibern, die aber immer auch auf das allerengste mit kaufmännischer
Kommunikation, sprich mit Handel verbunden waren. Doch bleibt Borgolte auch
bei dieser Betrachtung nicht dem sogenannten abendländischen Paradigma
verhaftet, reicht doch sein Blick auch auf die Handelsbeziehungen
Eufrasiens mit Indien und dem China des Konfuzius.
Gleichwohl zögert Borgolte nicht mitzuteilen, dass Christen und Muslime als
„Wegbereiter der Globalisierung“ in jenem „Mittelalter“ gelten können.
Besonders wichtig für diese Prozesse war der östliche Mittelmeeraum bis hin
zum östlichen Iran – ein Gebiet, in dem sich nicht nur die Religionen
durchmischten, und zwar so, dass sich aller Gewalt zum Trotz Chancen
eröffneten, Wissen über den Horizont der eigenen Gemeinschaft hinweg zu
erwerben.
Vor diesem Hintergrund gewinnen sogar gewisse Annahmen des gegenwärtigen
russischen Imperialismus, der sich der Ideologie des „Eurasischen“
verschrieben hat, eine gewisse Plausibilität. War doch etwa der
Mongolenkönig Dschingis Khan mit seinem Reich der „Goldenen Horde“
Protagonist und Förderer eines regen Handelsverkehrs zwischen dem östlichen
Russland und dem sehr viel weiter gelegenen Usbekistan: eines
Handelsverkehrs, in dem es vor allem um Bekleidung und Textilien, aber auch
um Genussmittel wie Wein ging.
Minder bekannt ist, dass die mongolischen Herrscher zunehmend zum Islam
konvertierten. Diese von Borgolte sorgfältig wiedergegebenen
Handelsbeziehungen werfen in der Tat ein neues Licht nicht nur auf die
Geschichte Russlands, sondern auch des westlichen Europa: dass dessen
Entwicklung der mongolischen Herrschaft ungemein viel verdankt, war so
bisher kaum zu lesen. Es ist nicht erst heute so, dass China und seine
Wirtschaft eine erhebliche Rolle für Europa spielen – bei Borgolte lässt
sich nachlesen, dass das schon vor sechshundert Jahren so war.
Daher Borgoltes Fazit: „Araber, Perser, Südostasiaten und Chinesen,
Christen, Muslime, Juden und Buddhisten schlossen miteinander Geschäfte ab,
konnten einander auf den Wegen ihres Handels auch ergänzen und vertreten.
‚Das Mittelalter‘ hat vor allem durch sie die Weichen für die
Globalisierung gestellt. Am Ausgang der Periode war es wiederum weder das
Streben nach größeren Herrschaften noch nach der Verbreitung religiöser
Botschaften, Lehren und Kulte, die die Welt der drei Kontinente aufbrachen,
sondern es waren die Interessen am Profit mit Handelsgütern aus der Ferne.“
Damit ist eine Perspektive eröffnet, die sich sowohl von einer
marxistischen als auch einer weberianischen Historiografie unterscheidet:
zwar sind religiöse Ideen als Treibsatz ebenso berücksichtigt wie auch
Profitinteressen, indes ist es nicht der Wille zur Aneignung von Mehrwert
und auch nicht der Wille zur Mission, sondern die nach Nachfrage sowie die
Lieferung begehrter Gebrauchsgüter, die schon vor mehr als 600 Jahren die
eine Welt erschufen.
28 May 2022
## AUTOREN
Micha Brumlik
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