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# taz.de -- „Das Leben war vorher schon auf Kante genäht“
> Inflation, Ukraine-Krieg, Pandemie: Erste Verteilungskämpfe sieht man in
> den Tafeln, sagt Klaus-Dieter Gleitze. Die neuen Zahlen zur
> Armutsgefährdung in Niedersachsen hält er für einen Skandal. Rund 1,3
> Millionen Menschen in dem Bundesland sind arm
Bild: Hier zeigt sich die Armut: Lebensmittelverteilung – hier der Hamburger …
Interview Andrea Maestro
taz: Herr Gleitze, die Landesarmutskonferenz Niedersachsen warnt vor härter
werdenden Verteilungskämpfen. Können Sie das schon beobachten?
Klaus-Dieter Gleitze: Ja. Wir arbeiten mit Menschen zusammen, die direkt
von Armut betroffen sind und die berichten, dass es vor Tafeln zunehmend
bildhaft gewordene Verteilungskämpfe gibt. Die Schlangen werden länger und
das, was an Lebensmitteln dort zu verteilen ist, wird weniger.
Und wie ist die Situation in den Familien selbst?
Was aufgrund der hohen Inflation und der zahlreichen Krisenphänomene in den
einzelnen Haushalten real stattfindet, wo im Einzelnen gespart wird, das
weiß niemand – nur dass es sein muss. Die Bundesregierung hat den
Hartz-IV-Regelsatz zu Beginn des Jahres um 0,7 Prozent, also um drei Euro,
erhöht, während die Inflation um fast sieben Prozent zugenommen hat. Das
Leben war vorher schon auf Kante genäht und jetzt geht es an die Existenz.
Das heißt, im Zweifel wird am Essen gespart?
Genau, deshalb gehen jetzt mehr Menschen zu den Tafeln, die das vorher
nicht nötig gehabt haben und sie gehen jetzt schon am 20. eines Monats.
Das Landesamt für Statistik in Niedersachsen hat die Armutsgefährdungsquote
für 2021 veröffentlicht. Sie liegt bei 16,8 Prozent. Was sagt Ihnen das?
Das ist ein Skandal in einem der reichsten Länder der Welt. In
Niedersachsen ist praktisch jeder sechste von Einkommensarmut betroffen –
1,3 Millionen Menschen. Diese Zahl wird sich in den nächsten Jahren nach
unserer Einschätzung noch deutlich erhöhen.
Und bei diesen Zahlen geht es tatsächlich um Menschen, die in Armut leben,
und nicht um solche – wie es der Begriff vermuten ließe – die gefährdet
sind?
Es geht um Menschen, die weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen
Einkommens zur Verfügung haben. Das sind in Niedersachsen 1.117 Euro für
Alleinlebende im Monat. Wir sprechen daher auch von Einkommensarmut.
Armutsgefährdung meint: Sie verfügen über so geringe materielle, kulturelle
und soziale Mittel, dass sie von der Lebensweise ausgeschlossen sind, die
in dem Land, in dem sie leben, als Minimum annehmbar ist.
Dabei geht es wahrscheinlich nicht um einen gelegentlichen Theaterbesuch.
Die sind vollkommen ausgeschlossen. Menschen, die von Hartz-IV betroffen
sind, müssen ja Geld auch zurücklegen, um zum Beispiel die kaputt gegangene
Waschmaschine zu ersetzen. Aber es geht auch um Menschen, die im
Niedriglohnsektor beschäftigt sind, die eine knüppelharte Leistung
erbringen müssen, dafür wenig Geld verdienen, aber die Miete in den
Ballungsräumen bezahlen müssen. Da ist an Theaterbesuche oder Urlaub nicht
zu denken. Die können froh sein, wenn sie nicht auf der Straße landen, wenn
sie in Städten wie Hannover, Braunschweig, Göttingen oder Oldenburg leben,
in denen die Mieten explodieren.
Was könnte die Landespolitik denn tun, um Armut zu bekämpfen? Hartz-IV
erhöhen könnte ja zum Beispiel nur der Bund.
Da könnte das Land aber eine Bundesratsinitiative starten und gemeinsam mit
anderen Ländern ein bisschen Druck im Bundesrat aufbauen, auch für eine
armutsfeste Grundsicherung wäre das sinnvoll oder für die Aussetzung der
Mehrwertsteuer auf Lebensmittel. Außerdem könnte das Land auch
Einmalzahlungen für Menschen mit wenig Geld locker machen, eine
Konsumbeihilfe.
Wird Armut im Wahlkampf eine Rolle spielen?
Die Gründung einer gemeinnützigen Landeswohnungsbaugesellschaft wird ein
zentrales Thema werden. Wir haben das gemeinsam mit anderen Akteuren schon
seit Jahren gefordert und mittlerweile will das auch die SPD in
Niedersachsen, ebenso die Grünen. CDU und FDP sind grundsätzlich dagegen.
Das wird einen Lagerwahlkampf geben.
In welchen Regionen ist Armut in Niedersachsen besonders verbreitet?
In Großstädten gibt es die klassischen sozialen Brennpunkte.
Niedersachsenweit sind das um die 70 Quartiere, Kieze, in denen sich
sozusagen Klumpenrisiken bilden: hoher Migrationsanteil, hohe
Erwerbslosigkeit, niedriger Bildungsstand und leider Gottes auch ein
überdurchschnittlich hoher Anteil an AfD-Wählerinnen und -Wählern. Und dann
gibt es im ländlichen Raum aber auch vernachlässigte, abgehängte Regionen,
zum Beispiel im Harz.
In Großstädten und auf dem Land unterscheiden sich die Gründe für Armut.
Ist es in Niedersachsen da besonders schwierig, politisch darauf zu
reagieren?
Das ist in einem Flächenland wie Niedersachsen natürlich wesentlich
schwieriger, das stimmt. Da fällt uns aber das auf die Füße, was wir von
der Politik schon seit Jahren fordern. Wir brauchen eine Art Masterplan für
eine nachhaltige Armutsbekämpfung. Darin würde man solche strukturellen
Unterschiede zunächst einmal definieren und dann auch mit den notwendigen
finanziellen und infrastrukturellen Leistungen angehen. Das ist dringend
notwendig. Wir sehen beispielsweise, dass die Altersarmut
überdurchschnittlich zugenommen hat.
Woran liegt das?
Bisher hatten Menschen, die aus dem Erwerbsleben ausschieden, eine
auskömmliche Rente. Das ändert sich gerade massiv aufgrund der
durchbrocheneren Erwerbsbiografien. Die Ursache für Altersarmut sind
mangelnde Einkommenschancen während des Erwerbslebens. Man müsste dafür
sorgen, dass die ganzen prekären Beschäftigungsformen endlich reguliert
werden: Zeitverträge, Kettenverträge, Minijobs, befristete
Arbeitsverhältnisse.
Dazu kommen noch Menschen, die beim Jobcenter als nicht in Arbeit
vermittelbar gelten.
Wir bräuchten für sie einen sozialen Arbeitsmarkt: einen öffentlichen
Beschäftigungssektor zu fairen tariflichen Bedingungen für Menschen, die
auf dem ersten Arbeitsmarkt keine Chance mehr haben.
Was könnten das für Jobs sein?
Wir haben da eine ganze Liste aufgestellt. Ein Beispiel: Die Situation in
der Pflege ist dramatisch. Die Pflegenden kommen gar nicht mehr dazu, sich
einfach um Menschen mal zu kümmern, mit denen mal in den Park oder
Einkaufen zu gehen. Dort hätten Langzeitarbeitslose auch ohne Ausbildung
durchaus eine Beschäftigungsmöglichkeit.
Und sind Sie dazu mit Ministerpräsident Stephan Weil im Gespräch?
Bevor man auf die Landesarmutskonferenz hört, da hängt die taz die Bild in
der Auflagenhöhe ab. Aber Augenzwinkern beiseite: Auch wenn wir schon Gehör
finden, gucken die Politiker natürlich nach den Wählerinnen und Wählern.
Und leider Gottes haben Menschen, die arm sind, oft resigniert und wählen
nicht mehr.
19 May 2022
## AUTOREN
Andrea Scharpen
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