# taz.de -- Haare sind Stacheln | |
> Die Fotografin Irina Werning reist durch Argentinien, um Frauen mit | |
> extrem langen Haaren zu finden. Die sind dort eine Kultur mit indigenen | |
> Wurzeln. Denn wer seine Haare schneidet, beschneidet auch seine Gedanken | |
Bild: Maria, Azucena and Rocio versuchen ihr Haar zu trocknen, was einen Tag la… | |
Von Katja Kullmann (Text) und Irina Werning (Fotos) | |
Ein menschliches Haar ist, technisch gesprochen, nichts als ein langer | |
dünner Hornfaden, gebaut aus Keratin, einem Faserprotein. Für sich | |
betrachtet, als Einzelstück, ist so ein Haar ein zartes Ding, es lässt sich | |
leicht vom Kopf reißen oder fällt von alleine aus. „Zu einer dicken Strähne | |
zusammengenommen, wird Haar jedoch zu etwas Starkem“, sagt die | |
argentinische Fotografin und Projektkünstlerin Irina Werning. Es | |
versinnbildliche „die Verbindung zu allen Kreaturen“, sowohl zur Natur wie | |
auch zur menschlichen Kultur – und zu längst vergangenen Generationen. | |
Diese Weisheit hat Werning bei den Kolla aufgeschnappt, einer indigenen | |
Gruppe, der die Fotografin erstmals 2006 im Nordwesten Argentiniens | |
begegnete. Seither ist sie von Haar fasziniert, insbesondere von langem, | |
dunklem Frauenhaar – und von den Geschichten, die sich darum ranken. | |
Tatsächlich glaubten Menschen schon in der Antike, dass eine mystische | |
Kraft im natürlichen menschlichen Kopfschmuck stecke. Und auch heute noch | |
gilt es in vielen Teilen der Welt als Frevel, sich die Haare zu schneiden, | |
auch für Männer, etwa bei den indischen Sikhs. | |
„Für viele indigene Völker ist das Kürzen des Haars gleichbedeutend mit dem | |
Beschneiden der eigenen Gedankenkraft“, erläutert Werning, es werde als | |
Zeichen von Schwäche gelesen. Umgekehrt stehe eine üppige, möglichst lange | |
Haarpracht für Mut, Macht und auch für die Kraft der Liebe, insbesondere | |
unter Frauen: Wenn Mütter, Töchter, Schwestern und Freundinnen sich | |
gegenseitig das Haar kämmen oder zu Zöpfen binden, „verstärken sie damit | |
den heiligen Wert ihrer Beziehungen untereinander“, sagt die Fotografin. | |
Über die Jahre ist Werning aufgefallen, dass Frauen in Südamerika ihr Haar | |
tendenziell länger tragen als ihre Geschlechtsgenossinnen in anderen Teilen | |
der Welt. Gerade in Argentinien ließen es heutzutage auch viele jüngere | |
Frauen voller feministischem Stolz sprießen. So wuchs sich Wernings | |
Begeisterung für dichte, glänzende, meterlange Mähnen zu einer ganzen | |
Bilderserie aus. Mit ihrer Faszination ist die Fotografin nicht allein: Der | |
deutsche Popkünstler Andreas Dorau widmete der weiblichen Haarpracht einen | |
ganzen Song: „40 Frauen mit langen schwarzen Haaren durchwandern die Auen“, | |
lautet der Refrain des freundlichen Liedes mit dem schlichten Titel „40 | |
Frauen“, das sich hervorragend als Soundtrack eignet, um dazu die | |
Bilderstrecke von Irina Werning zu betrachten. | |
28 May 2022 | |
## AUTOREN | |
Katja Kullmann | |
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