# taz.de -- Die Intimität,die kaum auszuhalten ist | |
> Das Grundgefühl der Verunsicherung zieht sich durch die Stationen des | |
> Theaterabends „Berlau“ am Berliner Ensemble. Beschreibung einer | |
> ungewöhnlichen Erfahrung | |
Bild: Mit ihr allein in der Szene: Susanne Wolff als Ruth Berlau in „Berlau“ | |
Von Andrea Paluch | |
Mit „Berlau“ widmet das Berliner Ensemble einer Figur aus Brechts | |
Frauenuniversum eine eigene Inszenierung. Ruth Berlau zum Mittelpunkt eines | |
Abends zu machen gefiel mir. Der Teil des Titels [1][„Live-Performance mit | |
VR von Raum+Zeit“] sagte mir nichts. Es sollte sich aber bald | |
herausstellen, dass genau dies der Dreh- und Angelpunkt der | |
Theatererfahrung ist. | |
Das Stück wird jeweils für nur eine Zuschauer:in gespielt. Das ist in | |
vielerlei Hinsicht besonders, für ein Theater ist es eigentlich | |
ökonomischer Kamikaze. An einem Abend sehen 20 Leute die Aufführung, die | |
insgesamt 5 Stunden dauert. Ein Intendant, der sich so etwas leisten kann, | |
hat alles richtig gemacht. | |
Der Abend beginnt zum angegebenen Timeslot im Foyer des Werkraums. Man wird | |
am Eingang abgeholt und im dunklen Vorführungsraum einem schwarzen Engel | |
übergeben, der einen durch den Abend lotst. Die Mitwirkenden sagen, die | |
Szenen seien jedes Mal anders, weil sie sich auf die Energie einstellen, | |
die die Zuschauer:innen mitbringen. Das erfordert höchste Konzentration. | |
Jede Szene ist mit einem Orts- und Medienwechsel verbunden. Die | |
Virtual-Reality-Brille versetzt einen in Szenen, in denen Brecht versucht, | |
Berlau mit verschiedenen Mitteln aus dem Theatersaal zu schmeißen, in dem | |
gleich die Premiere des „Kaukasischen Kreidekreises“ stattfinden wird. Er | |
befiehlt, droht, lügt, schreit, beschwichtigt. Und kommt letztlich nicht | |
umhin, sich mit der Situation auseinanderzusetzen, dass Ruth Berlau ein | |
Kind von ihm verloren hat und Zeit ihres Lebens nicht darüber | |
hinweggekommen ist, während Brecht offenbar keine Mühe damit hatte. | |
Die Kränkung und das Zerwürfnis darüber ist das zugrunde liegende Thema des | |
ganzen Abends. Beinah unnötig zu sagen, dass Berlau am „Kreidekreis“ | |
mitgearbeitet hat, bei dem es um ein verstecktes Kind geht. | |
Die VR-Brille dient aber auch der Desorientierung zwischen den Szenen, denn | |
man wechselt den Ort wie mit verbundenen Augen. Das Grundgefühl der | |
Verunsicherung wird auf diese Weise unheimlich verstärkt. Der ganze | |
Parcours des Abends ist darauf angelegt, ihn sowohl auf sinnlicher wie auf | |
emotionaler Ebene unter höchster Anspannung zu durchlaufen. | |
Die VR-Szenen mit Brecht werden von analogen Szenen unterbrochen, in der | |
man drei Mal Ruth Berlau begegnet, gespielt von drei Schauspielerinnen – | |
jung (Amelie Willberg), mittel (Susanne Wolff), alt (Esther Hausmann), in | |
Fleisch und Blut. Was in diesen Treffen passiert, ist unbeschreiblich. Die | |
Nähe zu den Schauspielerinnen und der unüblich lange Blickkontakt lassen | |
eine Intimität entstehen, die als Zuschauerin schwer auszuhalten und | |
gleichzeitig unglaublich faszinierend ist. | |
Dass man als Brecht angesprochen wird und Berlau sich abwechselnd | |
anbiedert, quält und empört, steigert das Unwohlsein. „Ich bin nicht | |
Brecht“, will man abwehren, aber so intensive Reaktionen zu erleben, ohne | |
sie wirklich verschuldet zu haben, ist auch genüsslich. Um nicht für Brecht | |
gehalten zu werden und die Szene irgendwie unbeteiligt beobachten zu | |
können, zieht sich mein Ich in einen kleinen Klumpen zurück und überlässt | |
meine Körperhülle der Situation. | |
Als mir dann doch etwas rausrutscht, krächzt meine Stimme leise von ganz | |
weit weg. Das soll ich gewesen sein? Ich gehöre nicht hierhin und es soll | |
doch nie aufhören. Nachdem ich mich an diese schizophrene Haltung und das | |
damit verbundene Unwohlsein gewöhnt habe, kann ich endlich über die | |
Schauspielerinnen staunen. Aus nächster Nähe sehe ich, wie präzise ihre | |
Gesichter Emotionen durchspielen, wie wohlüberlegt, originell und auch | |
humorvoll Berlaus Sprache ist, wie wunderschön die Frauen sind. Ich bin | |
verliebt. | |
Am Ende der Aufführung kann man einige Augenblicke lang den gesamten | |
Versuchsaufbau des Abends in action betrachten, die Kammern mit den Ruths, | |
die Zuschauer in den Kammern, die Zuschauer mit den Brillen, das Timing | |
hinter all der Gleichzeitigkeit. Man erkennt die Entstehung der Illusionen, | |
gleichzeitig beginnt die Anspannung zu weichen und macht Platz für | |
Bewunderung. | |
Benommen kehrt man in die reale Welt des Foyers zurück. | |
Wie es den anderen Zuschauern erging, wird in einem Gästebuch dokumentiert, | |
in das man seine unmittelbare erste Reaktion schreiben kann. Auch die | |
Schauspielerinnen führen eine Art Aufführungstagebuch, in dem Reaktionen | |
von Zuschauer:innen festgehalten werden, als Beispiele dafür, worauf sie | |
sich vorbereiten müssen. Denn auf das künstlich erzeugte Missbehagen | |
reagiert offenbar jede:r anders. Ich für meinen Teil hatte noch nie einen | |
so intensiven, verwirrenden, außergewöhnlichen, süchtig machenden | |
Theaterabend wie diesen. | |
„Berlau:: Königreich der Geister. Live-Performance mit VR“ von Raum+Zeit im | |
Berliner Ensemble, weiter im Spielplan bis bis 2. Juli | |
24 May 2022 | |
## LINKS | |
[1] /!5745725&SuchRahmen=Print | |
## AUTOREN | |
Andrea Paluch | |
## ARTIKEL ZUM THEMA |