# taz.de -- das wird: „Die tödlichste Grenze der Welt“ | |
> Anklage gegen einen sich verschanzenden Norden: Ein neues Buch über die | |
> Abschottung der EU stellen seine Autor:innen vor | |
Interview Henrike Notka | |
taz: Lea Reisner, das Buch ist eine Anklageschrift gegen die EU. Was hat | |
die verbrochen? | |
Lea Reisner: Die EU ist dafür verantwortlich, dass ihre Außengrenzen die | |
tödlichsten Grenzen der Welt sind. Ihr politisches Handeln führt dazu, dass | |
dort jedes Jahr unglaublich viele Menschen sterben. In diesem Jahr waren es | |
bereits 644 alleine im zentralen Mittelmeer, im vergangenen Jahr 2.048 – | |
also alle sechs Stunden ein Mensch. Das ist ein Verbrechen. Und da nur | |
Fälle dokumentiert sind, die beobachtet werden, ist die Dunkelziffer enorm | |
hoch. Viele Boote verschwinden einfach von der Bildfläche, ohne dass jemand | |
von ihnen weiß. | |
Was hat politisch dazu geführt? | |
Die europäischen Staaten haben sich geweigert, Italien Ende 2014 dabei zu | |
unterstützen, eine tatsächliche Seenotrettung im zentralen Mittelmeer zu | |
finanzieren. Dort gibt es mittlerweile keine einzige staatliche | |
Rettungsoperation mehr, sondern ausschließlich Luftüberwachung. Die dient | |
dazu, tunesischen und libyschen Behörden die Standorte der Boote | |
mitzuteilen, damit sie die Menschen zurück auf den afrikanischen Kontinent | |
in Folterlager bringen können. Die EU selbst dürfte das mit eigenen | |
Schiffen nicht und lässt andere ihre Drecksarbeit machen. | |
Warum verschanzt sich der Globale Norden derart? | |
Der strukturelle Rassismus ist sicherlich ein Grund, aber auch die | |
neokoloniale Tendenz seiner Politik: Die sorgt erst dafür, dass Menschen | |
fliehen müssen. Zum Beispiel wurden zwischen dem Niger und Mali Grenzzäune | |
gezogen, wodurch die Äcker zu militärischen Sperrzonen wurden. Der Norden | |
verschließt vor den Konsequenzen seines Handelns die Augen, und wenn die | |
Menschen dann nach Europa fliehen, irritiert das diejenigen, die den Status | |
quo aufrechterhalten wollen. | |
Wie passt Frontex in dieses Bild? | |
Frontex ist eine Grenzschutzbehörde, deren Ziel nicht der Schutz von | |
Menschen ist, sondern der Schutz von Grenzen – und das halte ich für | |
grundfalsch. Wir haben das Problem, dass sich über die letzten Jahre das | |
rechts-konservative Narrativ sehr in die Mitte der Gesellschaft verschoben | |
hat. Als Beatrix von Storch … | |
… von der AfD … | |
… 2015 getwittert hat, dass auf Geflüchtete an den Grenzen geschossen | |
werden soll, erntete sie einen Shitstorm. Seit 2021 wird geschossen und es | |
gibt quasi keine Reaktion darauf – EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der | |
Leyen ist nach Griechenland gefahren und hat sich für den guten Grenzschutz | |
bedankt. Wir müssen anfangen, Migration als Chance zu begreifen. Es gab sie | |
schon immer und hat nachweislich nur Vorteile für Gesellschaften. | |
Und was könnte jede*r Einzelne tun? | |
Damit beginnen, sich mit den eigenen internalisierten Rassismen | |
auseinanderzusetzen – die haben wir alle, auch ich. Dann würden wir | |
irgendwann aufhören, Menschen, die anders aussehen oder eine andere | |
Religion haben, als Feind*innen zu sehen. | |
9 May 2022 | |
## AUTOREN | |
Henrike Notka | |
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