# taz.de -- „In den Heimat-Debatten ging es um Abgrenzung, aber wenig um das,… | |
> Kristine Bilkau liest in Rendsburg und Eckernförde aus ihrem | |
> ausgezeichneten Roman „Nebenan“ | |
Interview Lenard Brar Manthey Rojas | |
taz: Frau Bilkau, auf den ersten Seiten von „Nebenan“ verschwindet eine | |
Familie spurlos und kaum jemand bemerkt es. Bildete diese Idee den Ursprung | |
Ihres Romans? | |
Kristine Bilkau: Für mich gibt es immer mehrere von mir sogenannte Keime: | |
kleine Themen und Ideen, denen ich auf die Spur gehen muss. Bei diesem | |
Roman waren das zum einen die verblassenden Innenstädte der kleineren | |
Städte. Was sagt das über unser Miteinander, wenn diese Orte veröden und | |
sich scheinbar kaum jemand kümmert? Auch das Verschwinden der Familie war | |
eine frühe Idee von mir. Das hat für mich mit den blinden Flecken unseres | |
sozialen Miteinanders zu tun. | |
Die Ortschaften im Roman erscheinen als Anti-Idylle: Sie sind von | |
verlorenen Hoffnungen und bedrohlicher Stimmung geprägt. Würden Sie diese | |
Bezeichnung gelten lassen? | |
Ich würde es nicht nur so düster auffassen. Diese Orte haben mehrere | |
Seiten. Für mich geht es um die gebrochenen Landschaften, die aber auch | |
vielfältig sein können. Ich finde die Zuschreibung Provinz zu vereinfacht. | |
Mir war wichtig zu zeigen, dass sich unter diesem Begriff Unterschiedliches | |
sammelt. Der Roman ist teilweise eine Anti-Idylle, aber dann stellt sich | |
mir die Frage: Liegt das an den Orten oder daran, was die Menschen aus | |
ihnen machen und wie sie ihr Miteinander gestalten? | |
Die Protagonistin Julia scheint sich in einer Instagram-ähnlichen Welt zu | |
verlieren. Wie denken Sie über soziale Medien? | |
Ich lehne soziale Medien nicht grundsätzlich ab. Ich wollte davon erzählen, | |
ohne zu urteilen. Mich interessieren die Sehnsüchte der Menschen, die dort | |
kursieren und wo sie hinführen. | |
Ist Ihr Roman ein Appell für mehr Gemeinschaftssinn und Achtsamkeit? | |
Auf jeden Fall. Ich habe das Buch bewusst ins Jahr 2017 verlegt. Die Zeit | |
des Brexit, der Trump-Wahl, des Umgangs mit Geflüchteten in Europa war | |
stark von anti-solidarischen politischen Bewegungen geprägt. Auch in den | |
Heimat-Debatten bei uns ging es viel um Abgrenzung, aber wenig um das, was | |
vor der eigenen Haustür passiert, etwa wenn in kleineren Städten der | |
Leerstand zunimmt und soziale Orte verschwinden. | |
Die Figur Andreas bemüht sich, die politischen Brüche seiner Zeit zu | |
begreifen und erwirbt Stefan Zweigs Autobiografie „Die Welt von gestern“. | |
Warum diese Verknüpfung? | |
Stefan Zweig beschreibt ein behütetes, aber auch behäbiges Lebensgefühl: | |
Ein Bürgertum, das sich an Wohlstand und Sicherheit gewöhnt hat und keinen | |
Blick für die Entsolidarisierung und die Kriegsstimmung in dem Europa | |
seiner Zeit hat. Man soll historische Epochen nicht zu leichtfertig | |
vergleichen, dennoch musste ich in den vergangenen Jahren oft an Zweigs | |
Buch denken und habe es im Roman anklingen lassen. Meine Figuren verhalten | |
sich paradox: Sie ziehen sich ins Private zurück, zugleich sehnen sie sich | |
nach sozialer Verbundenheit. | |
12 May 2022 | |
## AUTOREN | |
Lenard Brar Manthey Rojas | |
## ARTIKEL ZUM THEMA |