# taz.de -- Klasse gegen Klasse | |
> In Hamburg verzichtet die radikale Linke auf den Heimvorteil im Szenekiez | |
> und demonstriert in der reichen Hafencity | |
Bild: Letztes Jahr mit Heimvorteil: 1. Mai 2021 im Hamburger Schanzenviertel | |
Von Henrike Notka | |
Sonntag ist nicht nur Tag der Arbeit, sondern auch „Freedoom-Day“ für die | |
Hamburger:innen. Während Freiheit für die einen bedeutet, keine | |
Schutzmasken im Einzelhandel mehr tragen zu müssen, kämpfen andere für die | |
Befreiung der Arbeiter:innenklasse. Dazu zählt eben auch, die Krisenlasten | |
der Pandemie endlich umzuverteilen. Mehrere linke Bündnisse aus Hamburg | |
rufen daher zum Protest auf: „Heraus zum ersten Mai!“ | |
Das Bündnis „Wer hat, der gibt“ zieht in diesem Jahr mit einem | |
Demonstrationszug durch die Hafencity – vorbei an hypermodernen | |
Stahlbetonbauten mit schimmernden Glasfronten. „Als Prestigeviertel ist sie | |
ein exemplarischer Ausdruck für die ungleiche Verteilung von Reichtum“, | |
sagt Sophie Zechner vom Bündnis. Seit 2001 wird das | |
Stadtteilentwicklungsprojekt für die Reichen gebaut. Auch kulturell | |
provoziert das Quartier in ungebrochen kolonialistischer Tradition: vom | |
„Vasco-da-Gama-Platz“ bis zu den „Magellan-Terrassen“. Heute gibt sich | |
etwa das Logistikunternehmen Kühne und Nagel auf seiner Website als „fest | |
in der Hafencity verankert“. | |
Der Schauplatz des Erster-Mai-Protests hat damit einen hohen Stellenwert, | |
so symbolisch wie für einen Großteil der Öffentlichkeit Pyrotechnik und | |
brennende Mülltonnen sein dürften. Nicht selten wird linker Protest auf | |
oberflächliche Gewalt reduziert und überschattet jahrhundertelange | |
Unterdrückungen – von Arbeiter:innen und Prekariat. Also alle Menschen, | |
die nicht wissen, wie sie im nächsten Monat noch über die Runden kommen. | |
Meistens liegt für sie die einzige Möglichkeit, ihre Rechte eben zu | |
verteidigen darin, gesellschaftliche Spielregeln zu brechen: Die | |
Demonstrationszüge sind korrekt angemeldet, aber verbotene Pyrotechnik | |
erzeugt Aufmerksamkeit. | |
Auch der DGB Hamburg kommt in diesem Jahr zurück auf die Straße, nachdem er | |
die letzten zwei Jahre online demonstriert hat. „Gerade die Sichtbarkeit | |
der Kritik ist wichtig“, sagt Sprecher Lars Geidel und beschreibt, dass der | |
Protest in Krisenzeiten für viele ein Ausdruck von Selbstwirksamkeit sein | |
kann. Denn die Wahrnehmung, dass die schlimmste Zeit der Ausbeutung vorbei | |
wäre, trügt. Heute findet sie nur andere, perfide Ausdrucksweisen: Während | |
Sozialleistungen gekürzt und Tarifbindungen aufgehoben werden, nehmen | |
Zeitarbeit und Inflation zu. Für immer mehr Menschen werden Nahrungsmittel, | |
Miete und Heizkosten immer mehr zum Luxus. | |
Die Zunahme von prekären Beschäftigungen und Unsicherheiten hat viele | |
Gründe, sagt der Soziologe Martin Seeliger. Er forscht zum Wandel in der | |
Arbeitsgesellschaft und beschreibt, dass auch der Widerstand von | |
Unternehmensleitungen auf organisierte Arbeit zunehme. Mit Blick auf | |
Globalisierungsprozesse profitieren Unternehmen in zweierlei Hinsicht von | |
der Möglichkeit, Arbeitsprozesse in Billiglohnländer auszulagern: Man spart | |
jetzt bereits Produktionskosten ein und droht auf Forderungen von | |
Beschäftigten zugleich, die verbliebene Arbeit auch noch auszulagern. Für | |
abhängige Lohnarbeiter:innen wird Protest so zum Spiel mit dem Feuer. | |
Auch sonst wird es immer schwieriger, sich zu organisieren: Die Dichte der | |
Betriebsräte hat in den letzten 20 Jahren um 20 Prozent abgenommen – | |
Tendenz sinkend. Nur 40 Prozent der meist größeren Unternehmen haben noch | |
einen. Je kleiner das Unternehmen ist, desto höher ist die | |
Wahrscheinlichkeit, dass es dort keine Interessenvertretung für | |
Beschäftigte gibt. Seeliger geht davon aus, dass die Digitalisierung diese | |
Situation noch verschärfen wird. Arbeitsplätze werden durch den Einsatz von | |
Technik so weit vereinfacht, dass Qualifikationen und Ausbildungen | |
schlichtweg überflüssig werden. Die Tätigkeiten, die übrig bleiben, kann am | |
Ende jede:r ausführen: „Man ist austauschbar und verliert die Möglichkeit, | |
den Kapitalisten zu erpressen“, so Seeliger. | |
Ganz im Marx’schen Sinne – ohne den es am ersten Mai wohl nicht geht – | |
hängen die Beziehungen von Menschen damit zusammen, unter welchen | |
Bedingungen sie Güter und Dienstleistungen produzieren. Es hat einen | |
Einfluss, wie Menschen miteinander umgehen und sich organisieren (können), | |
wenn ihre Existenz dauerhaft durch Kapitalist:innen gefährdet ist. | |
Die Bündnisse wollen das nicht länger hinnehmen. Für Lars Geidel ist klar: | |
„Wenn nichts passiert, müssen wir laut werden und ein Weg dafür ist die | |
Straße.“ | |
30 Apr 2022 | |
## AUTOREN | |
Henrike Notka | |
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