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# taz.de -- Raureif in den Tropen
> Der Vater NS-Kameramann, die Tochter Mitglied der bolivianischen
> Guerilla. Karin Harrasser erzählt die wahnwitzige Geschichte der Familie
> Ertl
Von Lukas Böckmann
Gelegentlich ist im tropischen Tiefland Boliviens ein bizarres
Wetterphänomen zu beobachten. Wo sonst nur die täglichen Regenschauer die
drückende Hitze ein wenig mildern, lässt bisweilen ein eiskalter, von
Patagonien bis in die Feuchtsavanne der bolivianischen Chiquitanía
strömender Polarwind die Welt plötzlich unter einer dicken Schicht Raureif
erstarren.
Ähnlich gegenläufig wie der durch den Surazo genannten Südwind ausgelöste
Wintereinbruch in den Tropen mutet die Geschichte der Mitte der 1950er
Jahre aus Deutschland bis in die nahe Santa Cruz gelegene Chiquitanía
ausgewanderten Familie Ertl an. Unter dem Namen des dort einfallenden
Windes hat die in Wien und Linz tätige Kulturwissenschaftlerin Karin
Harrasser nun eine bemerkenswerte Studie über Vater Hans und dessen
Lieblingstochter Monika vorgelegt. In den Lebenswegen der beiden, so
schreibt die Autorin, lässt sich den politischen Erschütterungen des 20.
Jahrhunderts nachspüren, die von Europa bis in das südamerikanische
Andenland ausgriffen. In erstaunlicher Dichte scheinen sie sich gerade in
den letzten Lebensjahren Monikas zu bündeln.
Als junge, politisch interessierte Frau schloss sie sich Ende der 1960er
Jahre der von Ernesto Guevara gegründeten Guerilla ELN an. Aus Rache für
dessen Tod soll sie 1971 in Hamburg ein tödliches Attentat auf den
bolivianischen Konsul Roberto Quintanilla verübt haben, der Jahre zuvor als
Oberst der Geheimpolizei eine zentrale Rolle in der Hinrichtung Guevaras
gespielt hatte. Im Mai 1973 kam sie selbst im Alter von 35 Jahren bei einem
Feuergefecht mit bolivianischen Sicherheitskräften in La Paz ums Leben.
Maßgeblichen Anteil an der Operation des Militärs trug ein Mann, den Monika
in ihrer Jugend stets vertraulich „Don Klaus“ genannt hatte. Er war ein
guter Freund der Familie und hatte lange Jahre in direkter Nachbarschaft
zur Hacienda der Ertls in der Chiquitanía gelebt. Aus seiner Identität
hatte Klaus Barbie in Bolivien kaum einen Hehl gemacht, obwohl er während
des Zweiten Weltkriegs als „Schlächter von Lyon“ zahlreiche
Kriegsverbrechen begangen hatte. Vielmehr war er zu einem einflussreichen
Berater des bolivianischen Diktators Hugo Banzer in seinem Kampf gegen
Guerilla und Opposition aufgestiegen.
Hans Ertl störte sich weitaus mehr am politischen Engagement seiner Tochter
als an der Vergangenheit seines Freundes. 1908 in München geboren, hatte er
in den 1930er Jahren als Kameramann Leni Riefenstahls im
nationalsozialistischen Deutschland Karriere gemacht. Hatte er während des
Zweiten Weltkriegs im Auftrag Goebbels’ Propagandafilme über die Wehrmacht
gedreht, wollte er sich nach 1945 nicht als Nationalsozialist verstanden
wissen. Und doch begegnete er der bald darauf gegründeten Bundesrepublik
mit tiefer Verachtung. Mitte der 1950er Jahre wanderte er gemeinsam mit
seiner Ehefrau und den drei Töchtern nach Bolivien aus, wo er versuchte,
seine Karriere mit semidokumentarischen, meist verkitschten Filmen über die
indigenen Kulturen des Landes fortzusetzen.
Als sein drittes Filmprojekt, das wie Harrassers Studie Surazo geheißen
hätte, Anfang der 1960er Jahre scheiterte, zog er sich in die Chiquitanía
zurück, wo er sich bis zu seinem Tod im Jahr 2000 der Rinderzucht widmete.
Anders als klassische geschichtswissenschaftliche Arbeiten folgt Harrasser
in ihrer Studie jedoch nicht der vorgezeichneten Chronologie. Vielmehr fügt
sie kollagenhafte Ausschnitte zu einem immer dichter werdenden Panorama
zusammen. Bisweilen gleitet sie dabei ab, füllt zwangsläufig bestehende
Lücken mit Fiktionalisierungen und bricht mit den Konventionen des Fachs.
Zwar entsteht dadurch, wie sie selbst einräumt, letztlich kein kompletteres
Bild von Monika Ertl. Doch erweitert sie die bereits vorliegenden Arbeiten
um einen erhellenden Blick auf den bislang unterbelichteten Beitrag von
Frauen an den mit der Chiffre 1968 verbundenen Ereignissen.
Vor allem aber gelingt es Harrasser auf literarisch wunderbare Weise, durch
ihre abrupten Perspektivwechsel, Überblendungen und Montagen ein
vielschichtiges Bild zeitgeschichtlicher Verflechtungen zu entwerfen.
Ganz ähnlich wie der unvermittelte Wintereinbruch in den Tropen auf
thermische, mit dem bloßen Auge nicht erkennbare Gesetze zurückzuführen
ist, lassen sich in ihm unter der Oberfläche wirkende Strömungen erkennen,
die mitunter in Raum und Zeit weit zurückreichen und doch unmittelbar in
das Zeitgeschehen hineinwirken.
16 Apr 2022
## AUTOREN
Lukas Böckmann
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