# taz.de -- taz🐾thema: Ein wahrlich großer Fluss | |
> Wenn die Welt gerecht wäre, müsste die Donau eigentlich Iller heißen. | |
> Eine dreitägige Radreise führt entlang eines unterschätzten Gewässers von | |
> Oberstdorf nach Ulm | |
Von Gerhard Fitzthum | |
Schattendasein ist das richtige Wort: Die Donau kennt jeder, die Iller kaum | |
jemand. | |
Die meisten Radreisenden sehen den in den Allgäuer Alpen entspringenden | |
Fluss nur genau einmal im Leben – wenn sie auf dem hoffnungslos | |
überlaufenen Donauradweg unterwegs sind und kurz vor Ulm an der | |
Illermündung vorbeikommen. Die Verblüffung ist dann groß, denn die Donau | |
ist ohne Zweifel der kleinere Fluss. Der zweitlängste Strom Europas könnte | |
genauso gut Iller heißen! Grund genug, einmal den Illerradweg unter die | |
Reifen zu nehmen. | |
Das Abenteuer beginnt schon am Bahnhof Oberstdorf. Dem Zug entstiegen | |
wussten alle, wo sie hin wollten, nur wir nicht: Straßen ohne Ende, aber | |
kein Wasserlauf, nirgends. Liegt Oberstdorf, die südlichste Gemeinde | |
Deutschlands, etwa gar nicht an der Iller? | |
Nach einer Irrfahrt durch trostlose Zweitwohnungsareale entdecken wir | |
endlich einen kleinen blauen Wegweiser, der uns zum „Illerursprung“ leitet. | |
Drei sprudelnde Wildbäche vereinigen sich dort zu dem Fluss, dem es nun, | |
verteilt auf drei Tagesetappen, für 150 Kilometer zu folgen gilt. Die | |
türkisgrüne Färbung des glasklaren Wassers ist vielversprechend, geradezu | |
verführerisch. Passend dazu liegen am Ufer drei nackte Frauen und lassen | |
ihre wallende Haarpracht in Fließrichtung zeigen. Aus Holz, versteht sich – | |
die Kreation eines regionalen Bildhauers, der hier seine erotischen | |
Neigungen verewigen durfte. | |
Auf gut befahrbaren Naturwegen geht es nun direkt am Fluss entlang, mal auf | |
dem rechten, mal auf dem linken Ufer. Stromschnellen und Kiesbänke | |
bestimmen das Bild, untrügliche Kennzeichen, dass es sich um ein intaktes | |
Fließgewässer handelt. Wäre nicht mit einstelligen Wassertemperaturen zu | |
rechnen, würden wir uns schon mal auf eine Badepause freuen. Einstweilen | |
erfreuen wir uns am Anblick schneebedeckter Alpengipfel und der Abwesenheit | |
jeglichen Straßenverkehrs: Genauso haben wir uns das vorgestellt, genauso | |
muss ein Flussradweg beschaffen sein, damit er seinen Namen wirklich | |
verdient! Die einzigen Eingriffe in den Auwald stammen von der Natur selbst | |
– in Gestalt von Bibern, die auf manchen Streckenabschnitten ganze Arbeit | |
geleistet haben. | |
Kaum zu glauben, dass sich an der intimen Nähe zum Fluss bis in die | |
Allgäuer Metropole Kempten nichts ändert. Mit der modernen Zivilisation in | |
Kontakt kommt nur, wer einen Abstecher in eines der wenigen Illerstädtchen | |
macht, ins schöne Immenstadt etwa. Ansonsten bleibt man von der Welt der | |
Motoren, der Großtankstellen und der Gewerbegebiete verschont. Die einzigen | |
Geräusche, die wir vernehmen, stammen von den Vögeln, vom Wasser und vom | |
Feinsplitt, der unter den Reifen rauscht. Freilich gibt es auch ein Zuviel | |
des Guten: Nach fünfzig Kilometern auf steigungsfreien Uferdämmen kann es | |
einem schon mal langweilig werden. | |
Am zweiten Tag der Tour sehnt man sich bald nach dieser Eintönigkeit | |
zurück. In Krugzell beginnt nämlich der enge Illerbruch und der Radweg | |
biegt ins Hinterland ab. Gnadenlos steil und straßennah geht es auf das | |
Hochplateau von Altusried hinauf. Der Schweiß tropft von der Stirn, die | |
Lungen ringen nach Atem, am liebsten würde man die Satteltaschen abwerfen. | |
Bei der nächsten Gegensteigung taucht dann auch noch die Sinnfrage auf: | |
Hätte man sich nicht für einen etwas geruhsameren Urlaub entscheiden können | |
oder sich wenigstens ein E-Bike leisten sollen? Die InhaberInnen dieser | |
Kraftmaschinen fliegen mit solch einer unverschämten Leichtigkeit vorbei, | |
dass man ihnen ein akutes Batterieversagen wünscht. Und wo, verdammt noch | |
mal, ist eigentlich die Iller geblieben? | |
Oben angekommen sind die düsteren Schatten schnell verzogen: Wohin man auch | |
schaut – das Allgäu, wie man es kennt und liebt: sanft gewelltes offenes | |
Grünland, das dem Auge gut tut. Noch eindrücklicher wird es, wenn man | |
stehen bleibt und zurückschaut: In der Ferne dämmert die Alpenkulisse im | |
Gegenlicht – erhaben, weltfern, geradezu unwirklich. | |
An der Burgruine von Calden öffnet sich dann ein wahrer Abgrund: Tief unter | |
uns hat sich die Iller ihr ganz eigenes Reich geschaffen – eine Welt im | |
Urzustand, unbebaut und weglos. Ein Stillleben der Natur, das wir so | |
schnell nicht vergessen werden. All das wäre uns entgangen, wenn wir uns | |
nicht zuvor den Berg hinaufgequält hätten! | |
Am dritten Tag endet es dann, wie es angefangen hatte: Stundenlang geht es | |
wieder direkt an der Iller entlang, die inzwischen freilich zu einem | |
gewaltigen Strom angeschwollen ist. Zeit genug, sich weitere Fragen zu | |
stellen: Warum gibt es an einem so schönen Radweg so wenig Biergärten am | |
Ufer? Was machen die Biber eigentlich mit dem ganzen Holz? Und sind die ab | |
Kempten in regelmäßigen Abständen auftauchenden Stauwehre und | |
Wasserkraftwerke wirklich so umweltfreundlich, wie es die Infotafeln | |
glauben machen wollen? | |
Ärgerlich jedenfalls, dass der gesamte Unterlauf zu einem Kanal geworden | |
ist, der die Landschaft durchschneidet. Denkt man an die munter sprudelnde | |
Iller des Quellgebiets zurück, so kann einem der Fluss leidtun. Am meisten | |
natürlich dort, wo er bei Ulm in die Donau mündet. Wie beleidigt muss die | |
Iller sein, einem kleinen Nebenfluss ihren schönen Namen zu opfern? | |
9 Apr 2022 | |
## AUTOREN | |
Gerhard Fitzthum | |
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