# taz.de -- berliner szenen: Mit Fügeln und Schnabel | |
Tock tock tock. Es klopfte morgens gegen acht an mein Fenster. Tock tock | |
tock. Angesichts der Tatsache, dass mein WG-Zimmer im zweiten Stock liegt, | |
war das erschreckte Erwachen durchaus gerechtfertigt. In Erwartung eines | |
innerhalb der frühen Morgenstunden blitzartig und geräuschlos errichteten | |
Baugerüsts zog ich den Vorhang zur Seite. | |
Doch statt eines arbeitenden Handwerkers – nichts! Nur eine kleine Ente | |
verweilte gemütlich auf meinem Fensterbrett, klopfte mit ihrem Schnabel | |
galant und rhythmisch an meine Fensterscheibe. Tock tock tock. | |
Klar, die Panke ist nicht so weit entfernt von meiner Wohnung. Aber warum | |
von den Tausenden Fensterbrettern in meiner Umgebung ausgerechnet meines? | |
Ich setzte mich ans Fenster, musterte das Tier. Braun gescheckt, wie so | |
eine Ente eben aussieht. | |
Meine Frage, was sie denn hier wolle, blieb unbeantwortet. Aber das sich | |
daraufhin entspinnende imaginäre Gespräch über die menschliche Sehnsucht, | |
fliegen zu können, brachte meine Fantasie auf Trab. Plötzlich kam es mir | |
vor, als erzählte sie mir von irgendwelchen tückischen Luftströmungen über | |
Berlin, von der Wasserqualität der Kanäle, vom Knuspergrad des Brots der | |
Fütternden am Ufer. | |
Wie anders die Weltwahrnehmung wäre, wenn wir mit zwei Flügeln, Schnabel | |
und Schwimmhäuten ausgestattet in dieser Stadt unterwegs wären zu Land, zu | |
Wasser und in der Luft! Dabei aber unsere Menschengehirne behielten. | |
Mein Kopfkino war von einer solchen Kuriosität, dass ich das plötzliche | |
Wegflattern der Ente mit großem Bedauern quittierte. Seitdem frage ich | |
mich, was das wohl für eine Welt wäre, wenn wir alle ein bisschen mehr Ente | |
wären – durch die Gegend watscheln, lustig gucken, an fremde Fenster | |
klopfen. Tock tock tock. Julian Sadeghi | |
14 Apr 2022 | |
## AUTOREN | |
Julian Sadeghi | |
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