# taz.de -- Emanzipation und Verfolgung | |
> Shulamit Volkov betrachtet die deutsche Geschichte aus jüdischer Sicht, | |
> aus der sich einige Gewissheiten anders darstellen | |
Von Micha Brumlik | |
Das vergangene Jahr 2021 war dem Gedenken an 1.700 Jahre jüdischen Lebens | |
auf dem Gebiet, das als „Deutschland“ bezeichnet wird, gewidmet. Über | |
diesem Gedenken ist die jüngere Geschichte der Juden in Deutschland – eine | |
Geschichte, in der es keineswegs nur um die Leiden von Jüdinnen und Juden | |
in der NS-Zeit geht – etwas in den Hintergrund getreten. | |
Diese Lücke wird jetzt durch eine ebenso klar erzählte wie informative | |
Studie kompensiert, die die renommierte israelische Historikerin Shulamith | |
Volkov vorgelegt hat. Volkov lehrte vergleichende europäische Geschichte an | |
der Universität Tel Aviv. Mit ihrem von Ulla Höber luzide aus dem | |
Englischen übersetzten Buch „Deutschland aus jüdischer Sicht. Eine andere | |
Geschichte vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart“ geht sie den näheren | |
gesellschaftlichen Ursachen des nationalsozialistischen Judenhasses ebenso | |
nach wie der zentralen Rolle des – vor allem liberalen – Judentums für die | |
Modernisierung Deutschlands. | |
Volkov hat ihre Darstellung übersichtlich in vier Kapitel und einen Epilog | |
aufgeteilt. Eine Gliederung, die sich zunächst mit der Aufklärungszeit, | |
sodann mit den Jahren der „Einheit und Freiheit 1840–1870“ befasst, um | |
schließlich jüdisches Leben in Deutschland zwischen 1870 und 1930 zu | |
behandeln und sich endlich unter der Überschrift „Eine verlorene Heimat“ | |
den Jahren 1930–2000 zuzuwenden. Dabei räumt Volkov freimütig ein, die | |
Geschichte der deutschen Juden in der NS-Zeit nicht angemessen behandeln zu | |
können. | |
Auf jeden Fall stellt sie nicht umsonst die von Horkheimer und Adorno | |
thematisierte „Dialektik der Aufklärung“ ins Zentrum, indem sie nachweist, | |
wie selbstwidersprüchlich die immer wieder rückgängig gemachte Politik der | |
bürgerlichen Emanzipation jüdischer Männer in den deutschsprachigen Staaten | |
des späten Absolutismus war. | |
Vor allem aber war die sonst so viel gerühmte Revolution von 1848 | |
einschließlich des Paulskirchenparlamentes mit Blick auf die in den | |
deutschen Ländern lebenden Juden keineswegs so progressiv, wie immer wieder | |
geglaubt. Erlebten doch die deutschen Länder in jenen 1840er Jahren | |
judenfeindliche Aufstände nicht nur im Elsass, sondern im ganzen deutschen | |
Südwesten, denn – so Volkov: „Die Stimmung dieser Tage war aggressiv | |
antisemitisch. Als erster Akt einer aufgeklärten, liberalen Revolution war | |
dieser Beginn nicht gerade vielversprechend, noch weniger waren es die | |
Manifestationen antijüdischer Ressentiments in den Städten.“ | |
Als wichtige Ursache identifiziert Volkov treffend den durch die | |
Liberalisierung der Wirtschaft bewirkten Niedergang des alten, zunft- und | |
innungsmäßig organisierten Handwerks, zu dem Juden bekanntlich keinen | |
Zugang hatten. So verbreitete eine Gruppe von Handwerksmeistern damals | |
einen Brief, in dem die Juden, als „… Fremdlinge, die nirgends heimisch | |
sind und kein Herz für das Volk haben, wo sie wohnen“ bezeichnet wurden. | |
Tatsächlich profitierten die Juden – Angehörige einer das Lernen ins | |
Zentrum stellenden Religion – von der allgemeinen Generalisierung und | |
Modernisierung des Bildungswesens in den deutschen Ländern, sodass sie bald | |
immer mehr Positionen in den akademisch geprägten freien Berufen wie | |
Medizin, dem Rechtswesen, der Publizistik sowie der Wissenschaft einnahmen. | |
Unter anderem deshalb, weil ihnen beinahe überall vor 1919 die Wahrnehmung | |
von Beamtenstellen versagt war, sodass sie notgedrungen überproportional in | |
den freien Berufen tätig waren – was wiederum all jene, die gegen die | |
allgemeine Modernisierung waren, zu Antisemiten machte. | |
Antisemitismus und Ressentiment gegen eine liberale Gesellschaft entpuppten | |
sich in den deutschen Ländern somit als zwei Seiten einer Medaille. Und | |
das, obwohl deutsche Handwerker kaum je mit jüdischer Konkurrenz | |
konfrontiert waren. | |
Volkov gelingt es nicht nur, die Dialektik der Emanzipation zu entfalten, | |
sondern auch, die Beiträge von Jüdinnen und Juden zur modernen deutschen | |
Kultur prägnant nachzuzeichnen: von den Salons jüdischer Frauen im 19. | |
Jahrhundert bis zu Historikern und Romanciers wie Leopold Zunz und Heinrich | |
Graetz sowie Jacob Wassermann und Stefan Zweig. | |
Volkov verfolgt die Geschichte der Juden im Westen Deutschlands bis beinahe | |
in die Gegenwart: bis zur Kontroverse um Rainer Werner Fassbinders Stück | |
„Die Stadt, der Müll und der Tod“ und der zentralen Rolle, die Ignatz Bubis | |
darin spielte. | |
Indes: Einer weiteren Auflage des Buches wäre zu wünschen, dass Volkov sich | |
in einem Abschnitt auch der kleinen jüdischen Gemeinschaft in der DDR sowie | |
der Rolle der nach dem Krieg zurückgekehrten, oft genug angefeindeten | |
jüdischen KommunistInnen annähme. | |
Abgesehen davon liegt mit „Deutschland aus jüdischer Sicht“ eine bestens | |
lesbare, ungemein informative Darstellung der jüngeren deutsch-jüdischen | |
Geschichte vor: der Geschichte einer Minderheit, die zugleich ein | |
wesentlicher Teil deutscher Gesellschaftsgeschichte ist. | |
26 Mar 2022 | |
## AUTOREN | |
Micha Brumlik | |
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