| # taz.de -- „Wahrscheinlich braucht es Abschreckung“ | |
| > Emotionen spielen eine große Rolle: Die Friedensforscherin Regina Heller | |
| > über Putins Narrative und was der Krieg in der Ukraine für die | |
| > Friedensforschung bedeutet | |
| Interview Marthe Ruddat | |
| taz: Frau Heller, Sie forschen seit Jahren zu Russland, unter anderem zu | |
| russischer Innen- und Außenpolitik und ungelösten Konflikten im | |
| postsowjetischen Raum. Waren Sie überrascht von der Invasion Russlands in | |
| die Ukraine? | |
| Regina Heller: Ja und nein. Ich habe schon gemerkt, dass mit der | |
| Bedingungslosigkeit der Forderungen, die Russland im Vorfeld an die Nato | |
| gestellt hat, etwas Ungewöhnliches im Gange ist. Es gab verschiedene | |
| mögliche Szenarien, beispielsweise, dass Russland nur eine Drohkulisse | |
| aufrechterhält, um Zugeständnisse zu erwirken. Die meisten Wissenschaftler | |
| und Russlandexperten gingen aber davon aus, dass es eine militärische | |
| Auseinandersetzung in der Ostukraine geben würde. Das Szenario, dass Putin | |
| [1][die ganze Ukraine einnehmen] will, habe ich eher für unwahrscheinlich | |
| gehalten, weil nicht nachvollziehbar ist, wie Russland mit diesem Szenario | |
| die angestrebten Ziele erreichen will. | |
| Und warum sind Sie doch nicht vollkommen überrascht? | |
| Weil mir aufgrund meiner Forschung klar war, dass die Kalkulation Putins | |
| nicht auf rein sachlichen Argumenten beruht, sondern auch von anderen | |
| Faktoren beeinflusst ist. Es geht auch um die Frage, wie Putin die | |
| Geschichte Russlands und das Verhältnis zum Westen in den vergangenen 25 | |
| Jahren interpretiert. Auf russischer Seite herrscht offensichtlich das | |
| Gefühl, dass die russische Selbstdefinition und Identität immer weniger | |
| anerkannt worden ist. Russland ist faktisch eine absteigende Macht, man | |
| agiert aus einer Position des Verlustes. Aus dieser Position heraus setzt | |
| Putin fehlerhafte Prioritäten und achtet nicht so sehr darauf, was | |
| realistisch ist oder passieren kann. | |
| Sie sprechen damit die sozio-emotionalen Faktoren an, mit denen Sie sich | |
| auch [2][in Ihrer Forschung] beschäftigen. Wieso haben Sie hier einen Fokus | |
| gesetzt? | |
| Wenn man so will, hat mich der Untersuchungsgegenstand selbst darauf | |
| gebracht. Mit dem Krieg im Kaukasus 2008 habe ich eine gewisse Verschiebung | |
| erkannt. Putin wurde immer mehr der „angry man“, der permanent von | |
| fehlendem Respekt sprach. Die Rhetorik wurde immer aggressiver und man | |
| konnte auch eine zunehmende Aggressivität der Außenpolitik und | |
| Autokratisierung nach innen wahrnehmen. Ich habe mich gefragt, wie das | |
| einzuordnen ist. Denn wenn auf der einen Seite Narrative vom fehlenden | |
| Respekt eine Rolle spielen und auf der anderen Seite politische Praktiken | |
| sichtbar werden, die für Russland tendenziell nachteilig sind, dann ist das | |
| nicht rein rational erklärbar, sondern dann müssen andere Faktoren eine | |
| Rolle spielen. | |
| Wie muss ich mir Ihre wissenschaftliche Arbeit genau vorstellen? | |
| Das kommt auf die Fragestellung an. Bei dem Projekt über Emotionen ging es | |
| um die Frage, welches Narrativ die russische Regierung in die | |
| Öffentlichkeit transportiert und wie sich die Rhetorik im Abgleich mit der | |
| politischen Praxis verändert. Dafür haben wir qualitative Forschung | |
| betrieben und sehr viel Material ausgewertet, unter anderem | |
| Regierungstexte. Die Auswertung erfolgte, basierend auf wissenschaftlichen | |
| Theorien, nach spezifischen Analysemodellen, beispielsweise aus der | |
| Psychologie. | |
| Und welche Muster haben Sie da erkannt? | |
| Wir konnten feststellen, dass aus einer zunächst episodischen Wut über | |
| gefühlte westliche Statusmissachtung über die Zeit dauerhafte Ressentiments | |
| gegenüber dem Westen entstanden sind, die immer häufiger und | |
| ereignisunabhängig die Wahrnehmung und den offiziellen Diskurs geprägt | |
| haben. Diese Ressentiments sind heute eine Ressource für die Stabilisierung | |
| des Regimes, das sich vor allem über die [3][Großmachtidentität Russlands] | |
| legitimiert. | |
| Mit Blick auf den Krieg in der Ukraine, welche Aufgabe oder Position hat | |
| die Friedensforschung jetzt? | |
| In der Friedensforschung geht es immer darum, Lösungen für Konflikte zu | |
| finden, Gewalt und den Tod von Menschen zu verhindern. Die | |
| [4][Waffenlieferungen an die Ukraine] stellen aus meiner Sicht ein Dilemma | |
| für uns Friedensforscher dar. Natürlich hat die Ukraine das Recht, sich zu | |
| verteidigen, das ist auch in der UN-Charta festgeschrieben. Auf der anderen | |
| Seite kann man argumentieren, dass dadurch das Leid verlängert wird. Ich | |
| glaube, auf diese Frage gibt es keine zufriedenstellende Antwort. Im Moment | |
| ist sicherlich die wichtige Frage, wie eine Verhandlungslösung aussehen | |
| kann. Das ist natürlich schwierig, weil man nicht den Eindruck hat, dass | |
| für die russische Seite eine Verhandlungslösung infrage kommt. | |
| Es gibt ja [5][Verhandlungen]. | |
| Ja, aber die Frage ist, ob sie wirklich ernsthaft geführt werden oder sie | |
| für Russland nur ein Element sind, um Zeit zu gewinnen und sich strategisch | |
| anders aufzustellen. Das ist schwierig zu sagen. Ich denke, die | |
| Friedensforschung wird sich mit der Frage beschäftigen müssen, welche | |
| Friedensordnung es in Europa nach diesem militärischen Konflikt geben kann. | |
| Es braucht ja unbestritten auch zukünftig irgendeinen Modus Vivendi mit | |
| Russland. Die Frage ist, wie man sich miteinander arrangiert. | |
| Was können Sie sich da vorstellen? | |
| Es gibt verschiedene Möglichkeiten. Wahrscheinlich braucht es Abschreckung. | |
| Möglich ist eine reine Sicherheitsordnung, in der man versucht, Regeln zu | |
| finden, mit denen sich jede Seite sicher fühlt. Eine Friedensordnung, in | |
| der man kooperiert und gemeinsam die Zukunft entwickelt, wäre noch ein | |
| Schritt weiter. Aber ich glaube, davon sind wir derzeit ganz weit entfernt. | |
| Sorgt der Ukrainekrieg also auch dafür, dass bisherige Annahmen der | |
| Friedensforschung nicht mehr gültig sind? | |
| Ich denke, dass wir generell vor neuen Herausforderungen stehen und auch | |
| die Friedensforschung und Friedenstheorie bestimmte Dinge neu denken muss. | |
| Viele Theorien sind in den 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts entstanden, in | |
| denen die Strukturen relativ fest waren und sich viel auf den | |
| Ost-West-Konflikt konzentriert wurde. Wir sehen ja aber seit vielen Jahren, | |
| dass immer wieder andere Konfliktherde auftauchen. Wir haben das am | |
| Institut die Bruchstellen der Globalisierung genannt. | |
| Welche Bruchstellen meint das? | |
| Es geht nicht mehr nur um Konflikte zwischen zwei Staaten. Es gibt nicht | |
| mehr nur die zwei Pole Ost und West, sondern mehrere Machtpole auf der | |
| Welt, beispielsweise auch aufstrebende Länder im globalen Süden. Alles ist | |
| viel mehr verflochten. Es brechen heute auch Konflikte aus zwischen | |
| Gesellschaften, beispielsweise durch eine zunehmende Schere zwischen Arm | |
| und Reich in etablierten Demokratien. Wir müssen uns fragen, was unter den | |
| Bedingungen des Wandels und der Verflechtung zukünftig Frieden | |
| konstituieren kann. | |
| 21 Mar 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Marthe Ruddat | |
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