# taz.de -- ausgehen und rumstehen von Detlef Kuhlbrodt: Der Krieg macht auch v… | |
Seit Dienstag wird der dritte Teil des „FIDE Grand Prix“ in Berlin-Mitte | |
ausgespielt. 30 ZuschauerInnen sind live vor Ort zugelassen. Die anderen, | |
zwischen zehn- und dreißigtausend – gucken sich die Internetübertragungen | |
bei Twitch oder Youtube an. | |
Sechzehn Weltspitzenschachspieler spielen also in vier Gruppen zweimal | |
gegeneinander. Der jeweils Erste kommt weiter. Dann gibt es Halbfinales und | |
Finales und bei Bedarf Tiebreaks mit weniger Bedenkzeit und manchmal auch | |
ein noch kürzeres „Armageddon“; bei dem Schwarz ein Remis genügt, um zu | |
gewinnen, aber eine Minute weniger Bedenkzeit hat. Vor allem werden beim | |
Grand Prix auch noch zwei Plätze für das Kandidatenturnier vergeben, auf | |
dem der Herausforderer gegen Schachweltmeister Magnus Carlsen ermittelt | |
wird. | |
Ich hätte mir den Grand Prix gern live vor Ort angeguckt, bin aber wegen | |
chronischer Gesundheitsprobleme behindert und geh‘ eigentlich nie aus. | |
Außerdem hatte ich auch Schwellenängste und befürchtete, dass Hikaru | |
Nakamura verlieren würde. | |
Der amerikanische Schachprofi ist der bekannteste Schachstreamer der Welt. | |
Er ist viermaliger amerikanischer Champion und hat 1,2 Millionen Follower | |
auf Twitch. Ich hatte ihn vor zwei Jahren für mich entdeckt. Als lesender | |
Kiffer fand ich es super, dass Hikaru so oft die Bongcloud spielte in einem | |
Sport, in dem kleinste Cannabisrückstände zur Disqualifikation führen | |
würden. Er ist einer der weltbesten Blitzschachspieler; im klassischen | |
Schach, wo eine Partie auch mal sechs Stunden dauert, aber eher | |
Außenseiter, und dass er den ersten Teil des Grand Prix gewonnen hatte, | |
also noch gute Chancen hat, am Kandidatenturnier im Sommer teilzunehmen, | |
war eine Überraschung. | |
Der Beginn des Turniers verläuft eher suboptimal – Hikaru verliert die | |
erste Partie gegen den aus Armenien stammenden Turnierfavoriten Levon | |
Aronian und spielt die nächsten zwei Partien Remis. Außerdem ist sein | |
Twitch-Account zwei Tage gesperrt, weil er ein Video veröffentlicht hatte, | |
auf dem er gegen jemanden spielt, der bei dem Streamingportal gesperrt ist. | |
Die Sperre setzt Hikaru zu. Er wirkt angeschlagen, als er davon erzählt. | |
Nachdem die Sperre am Freitag aufgehoben ist, fängt er sich wieder, gewinnt | |
zwei Spiele hintereinander und zeigt im Gespräch ein holzgeschnitztes | |
„Hikaru Nakamura“-Schild, das ihm ein Fan überreicht hatte. | |
Ich schaue mir fast alles an auf dem offiziellen Stream von worldchess.com | |
und dem Twitch-Kanal von Hikaru und fühlte mich dabei unter FreundInnen. So | |
viele Stunden habe ich in den letzten Monaten mit den KommentatorInnen | |
verbracht. Ich mag die warme Stimme von Evgenij Miroshnichenko und seinen | |
Cockney-Akzent. Seine Co-Moderatorin, Jesse February, sitzt in Südafrika | |
und lacht manchmal. Die KommentatorInnen auf Hikarus Kanal sitzen auch in | |
unterschiedlichen Weltgegenden. Eine ist nach dem russischen Überfall in | |
Belgrad gestrandet. | |
Der Krieg ist in der Schachwelt sehr präsent. Ian Nepomniatchi, der im | |
November noch um den WM-Titel gespielt hatte, hatte sofort nach | |
Kriegsbeginn unter dem Hashtag „#STOPTHEWAR“ getwittert. Der ehemalige | |
Finalist Alexander Grischuk hatte beim Grand Prix in Belgrad ein mutiges | |
Statement abgegeben; Es gab und gibt unzählige Ukraine-Charity-Streams aus | |
der Schachszene. Manche haben 30.000, andere 100 ZuschauerInnen. Grad | |
spielt Judith Polgar, die berühmteste Schachspielerin der Welt, simultan | |
von Dubai aus „gegen die Welt“ (die woanders an ihren Laptops sitzt) und | |
für die Ukraine. Von meinem Fenster aus sehe ich auf ein ehemaliges | |
Postgebäude, das nachts blau-gelb leuchtet. So viel wäre noch zu berichten. | |
Das Turnier läuft noch bis zum 3. April. | |
29 Mar 2022 | |
## AUTOREN | |
Detlef Kuhlbrodt | |
## ARTIKEL ZUM THEMA |