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# taz.de -- Die traumatisierte Clickworkerin
> Im Zentrum des neuen Romans von Berit Glanz steht eine Frau, die für
> einen mickrigen Stundenlohn die Aufnahmen von Überwachungskameras
> sichtet. Solide Netzwerke und Panikattacken – die Digitalisierung
> erscheint in „Automaton“ ambivalent
Bild: Überwachungskameras erzeugen Bilderfluten
Von Marlen Hobrack
Stundenlang geschieht nichts auf den Überwachungsaufnahmen. Aber dann tut
sich ein Rätsel auf, das darin besteht, was nicht mehr zu sehen ist. In
„Automaton“, dem zweiten Roman von Berit Glanz, überwachen nicht die
Maschinen die Menschen; das Verhältnis von Überwachung und Überwachenden
ist viel komplexer geworden. Wie auch in ihrem Romandebüt „Pixeltänzer“
widmet sich Glanz der Welt des Digitalen, übt Technokritik, ohne zugleich
in eine dystopische Technoskepsis zu verfallen.
Im Zentrum des Romans steht die alleinerziehende Tiff. Sie ist
Clickworkerin und verdient ihr Geld auf einer Plattform namens Automa. Für
einen mickrigen Stundenlohn klickt sie sich im Akkord durch Bilder- und
Videofluten, verpasst dem Material Zeitstempel oder Bildbeschreibungen. Als
sie den Auftrag einer Firma namens ExtraEye antritt, ist allerdings nicht
mehr ganz klar, ob ihre Arbeit dem Training und der Kontrolle von KI dient
– oder ob sie die kostengünstige Alternative zum Einsatz von KI darstellt.
Tiff muss die Aufnahmen von Überwachungskameras sichten, als sie einen
bärtigen Mann entdeckt, der seinem Hund aus einem Buch vorliest. Die
treuherzige Szene weckt ihr Interesse, aber eines Tages verschwindet Mr.
Beard auf mysteriöse Weise.
Allmählich klickt es beim Leser, es tut sich eine Verbindung zur zweiten
Erzählebene des Romans auf. Hier geht es um Stella, die als Freiwillige in
einer Suppenküche aushilft und ihr Dasein als prekär Beschäftigte –
zunächst in einer Fischfabrik, dann auf einer Cannabis-Plantage – fristet.
An dieser Stelle soll nicht zu viel vom Plot vorweggenommen werden. Beide
Frauen verbindet aber offensichtlich die Akkordaarbeit unter den
Bedingungen eines skopischen Kapitalismus.
Dieser Terminus wurde von der Soziologin Eva Illouz geprägt, skopisch (von
skopein = betrachten) bezieht sich bei Illouz auf die Betrachtung der
Körper. Aber man muss den Begriff weiter fassen: Bei Glanz, und in der
Realität der digitalen Bildwelten, betrachten ja nicht nur Menschen
Bildströme; Tiff, deren Name nicht zufällig auf ein Bildformat anspielt,
betrachtet Überwachungsbilder, auf denen Überwachungspersonal zu sehen ist;
sie dupliziert den überwachenden Blick. Auch Automatons wie Tiff könnten
von ihren eigenen Webcams überwacht werden. Dieser skopische Kapitalismus
wirkt wie eine dystopische Totalüberwachungswelt, die allerdings einen
traurigen Witz enthält: Es geht hier zunächst einmal gar nicht darum, dass
KI unsere Gewohnheiten ausspioniert; die Überwachung dient allein der
Frage, wie wir arbeiten. Sie ist Selbstzweck.
Glanz erzählt souverän und spannungsreich, ihr Fokus liegt aber nicht auf
einer geschliffenen Sprache. Stattdessen fokussiert sie auf Plot und Stoff
– Aspekte eines Zeitalters der Überwachung. Auf einer abstrakteren Ebene –
und das ist der Clou – verweist „Automaton“ auch auf Hegels Betrachtungen
zur Automatisierung der Arbeit. In seiner „Philosophie des Rechts“ fragt
er, ob nicht die Maschinen die abstumpfende, repetitive Arbeit übernehmen
könnten – um den Menschen von ihr zu befreien. Aber bei Glanz ist man sich
nie so sicher, wer hier der Automat(on) ist.
Der Stoff hätte als Krimi oder aber als dystopischer Thriller aus der Welt
der Überwachungstechnologie erzählt werden können. Glanz entschied sich
aber für eine andere Möglichkeit: Sie zeigt gleichsam auch ein utopisches
Potenzial auf. Tiffs Click-Arbeit ist für sie ein Fenster zur Welt. Sie
kann arbeiten, ohne das Haus verlassen zu müssen. Was ihr nicht nur als
Alleinerziehende hilft; sie kann Geld verdienen, obwohl sie von furchtbaren
Panikattacken gequält wird. Allerdings wurzeln die Panikattacken auch in
einem ihrer Click-Jobs, bei dem sie durch Bildmaterial traumatisiert wurde.
Obgleich sie die anderen Automatons nicht persönlich kennt, bilden sie ein
solides Netzwerk, das Anteil nimmt an Tiffs Leben.
Dieses solide Netzwerk wird auch von Menschen in der realen Welt erweitert:
den Nachbarn Monika und Mikael. Und im Falle von Mr. Beard hat Tiffs Job
tatsächlich Auswirkungen auf einen realen, weit entfernt lebenden Menschen.
Ob der Roman Tiffs Geschichte am Ende nicht in etwas zu viel Wohlgefallen
auflöst, ist Geschmackssache. Sehr lange aber erhält der Text eine kluge
Ambivalenz aufrecht. Ein und dieselbe Technik erlaubt Vernetzung und
Überwachung. Die Technik ist zwar nicht neutral, aber sie besitzt eine
gewisse Offenheit. Entscheidend ist, wie sie eingesetzt wird – und von wem.
Allzu blinde Hoffnung auf ein Ende der mechanischen Arbeit sollten wir uns
allerdings nicht machen.
5 Mar 2022
## AUTOREN
Marlen Hobrack
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