# taz.de -- Falschgeld Bitcoin | |
> Warum sich Kryptos nicht als Zahlungsmittel eignen | |
Bild: Caroline Achaintre, Ringo, 2010, Keramik, Leder, 18 × 13 × 10 cm | |
von Frédéric Lemaire | |
Kryptowährungen oder digitale Währungen, die lange bloß als Kuriosität | |
galten, haben in den letzten Jahren immer öfter Schlagzeilen gemacht. Der | |
Kurs der wohl bekanntesten Kryptowährung, Bitcoin, versechsfachte sich | |
zwischen Oktober 2020 und März 2021, ehe er sich schlagartig fast | |
halbierte. Anfang November 2021 erreichte er ein neues Allzeithoch, um kurz | |
darauf wieder abzustürzen. | |
Mehrere bekannte Akteure des Silicon Valley und der Wall Street haben dazu | |
beigetragen, dieser Kryptowährung öffentliche Legitimität zu verschaffen. | |
So erlaubte der größte Vermögensverwalter BlackRock zwei seiner Fonds, auf | |
Bitcoin basierende Derivate zu kaufen. | |
Seit März ermöglicht der Online-Zahlungsdienst Paypal den Erwerb von | |
Kryptowährungen und ihren Umtausch in jede beliebige andere Währung. Zwei | |
Monate später richtete die Investmentbank Goldman Sachs ein eigenes Team | |
für den Bitcoin-Handel ein und bot ihren Kunden die Möglichkeit, auf den | |
Kurs des Bitcoin zu spekulieren. Unterdessen kündigte auch Morgan Stanley | |
an, drei Kryptowährungsfonds für ihre betuchte Kundschaft aufzulegen. | |
Auf den ersten Blick scheint es also, als sei Bitcoin dabei, die globale | |
Finanzwelt zu erobern. Manche sehen in ihm sogar schon ein zukünftiges | |
Wertaufbewahrungsmittel ersten Ranges, vergleichbar mit Gold. Von einer | |
vollwertigen Währung ist er allerdings noch weit entfernt, und bislang kann | |
sich noch niemand vorstellen, beim Bäcker mit Bitcoin zu bezahlen. Das ist | |
angesichts der vielen mit der Kryptowährung verbundenen Probleme keine | |
schlechte Nachricht. | |
Erfunden wurde der Bitcoin im Gefolge der weltweiten Finanzkrise Ende der | |
2000er Jahre. Am 31. Oktober 2008 schickte Satoshi Nakamoto (ein Pseudonym) | |
ein Dokument an ausgewählte Kryptografie-Enthusiasten, die sich mit | |
Techniken zur Verschlüsselung von Nachrichten befassen. Anschließend | |
stellte er den Text ins Internet. | |
Auf diesem „Weißbuch“ beruhte das dezentrale System einer elektronischen | |
Währung ohne einen zentralen Emittenten und ohne eine vertrauenswürdige | |
dritte Partei, die den Austausch validiert. Das von Nakamoto vogeschlagene | |
Zahlungsmittel sollte also ohne Zentralbank und Finanzintermediäre | |
auskommen und eine fast vollständige Anonymität des Handels garantiert. | |
Bitcoin erreicht dies mittels einer Blockchain, eine Art weltweitem, | |
dezentralisierten und öffentlichen Register aller Transaktionen in der | |
Kryptowährung. Die einzelnen Blöcke sind wie Seiten, auf denen jeweils bis | |
zu 2000 Transaktionen notiert werden können. Die hunderttausende von | |
Transaktionen, die jeden Tag ablaufen, werden durch ein einzigartiges | |
kryptografisches Verfahren gesichert, an dem Computer aus der ganzen Welt | |
beteiligt sind. | |
Die Validierung jedes neuen Blocks, der in die Kette eingefügt wird, | |
erfordert einen erheblichen Rechenaufwand – bei einem großen | |
Energieverbrauch der beteiligten Computer. Sobald ein „Miner“ – so werden | |
beteiligte Einzelpersonen und inzwischen auch mehr oder weniger offizielle | |
Strukturen mit hunderten von Computern genannt – einen Block einfügt, wird | |
ihm eine bestimmte Menge an Bitcoins zugeteilt. | |
Die Währung wird also durch denselben Prozess geschöpft, der sie sichert. | |
Damit gibt es keine Finanzintermediäre wie Banken, die die Stabilität des | |
Zahlungssystems gewährleisten, und auch keine Zentralbank. Die | |
Geldschöpfung erfolgt automatisch allein durch die Auszahlung an die | |
„Miner“. Sie ist zudem begrenzt: Im gesamten Netzwerk wird ungefähr alle | |
zehn Minuten ein neuer Block geschaffen, und die Entlohnung der Miner | |
halbiert sich jeweils nach 210 000 Blöcken. | |
Die Geldschöpfung nimmt somit im Laufe der Zeit ab, wobei die maximale | |
Menge an Bitcoins von ihren Erfindern auf 21 Millionen begrenzt wurde. Im | |
November 2021 waren knapp 19 Millionen Bitcoin im Umlauf. Eine solche | |
Selbstbeschränkung gilt allerdings nicht für alle Kryptowährungen. | |
Aus dieser Funktionsweise ergeben sich zwei Probleme: Erstens ist die | |
Anzahl der in jedem Block registrierten Transaktionen begrenzt, was die | |
Anzahl der täglich möglichen Transaktionen einschränkt. Anfang Januar | |
2021 erreichte Bitcoin einen Rekord von 400 000 Transaktionen pro Tag, im | |
Vergleich dazu waren es beim konventionellen Zahlungsnetzwerk Visa mehrere | |
hundert Millionen. Und zweitens verbraucht die digitale Währung ständig | |
mehr Energie – trotz gleichbleibender Zahl der Transaktionen –, und zwar in | |
dem Maße, in dem das Netzwerk wächst und der Wettbewerb zwischen den Minern | |
zunimmt. | |
Nach der Finanzkrise von 2008, deren Auswirkungen bis heute zu spüren sind, | |
stieß das Versprechen eines nicht von Geschäfts- und Zentralbanken | |
beherrschten Geldsystems auf breites Interesse. Schließlich waren die | |
Bankgiganten direkt für das Finanzdebakel verantwortlich, das die | |
Zentralbanken ihrerseits nicht verhindert haben. | |
Die Idee des Bitcoin geht jedoch weniger auf eine linke Kritik am | |
Finanzsektor als vielmehr auf die österreichische Schule der | |
Nationalökonomie und Autoren wie Ludwig von Mises und Friedrich Hayek | |
zurück. Nach dieser neoliberalen Lehre führen staatliche Interventionen und | |
das Währungsmonopol der Zentralbanken zwangsläufig zu einer künstlichen | |
Aufblähung des Kreditvolumens und damit zu Inflation und Krisen. In seiner | |
Schrift über die „Entnationalisierung des Geldes“ von 1976 plädierte Hayek | |
für einen Wettbewerb der Währungen, damit die besseren, durch den Markt | |
disziplinierten die schlechten verdrängen. | |
Nach einer 2012 veröffentlichten Analyse der Europäischen Zentralbank wird | |
diese Auffassung von vielen Bitcoin-Fans geteilt.[1]Der Bitcoin stellt | |
tatsächlich das Geldschöpfungsmonopol der Zentralbanken und die Rolle der | |
Banken bei der teilweise exzessiven Kreditvergabe infrage. Als eine | |
vollständig dem Urteil des Marktes unterworfene Währung würde er eine | |
Bresche in das existierende Geldsystem schlagen. | |
Einige sehen eine digitale Währung auch als Rückkehr zu so etwas wie dem | |
Goldstandard, da diese wie Gold nur in begrenzter Menge verfügbar und nicht | |
beliebig reproduzierbar ist. Gavin Andresen, einer der Bitcoin-Entwickler, | |
preist die Kryptowährung sogar als „verbesserte Version von Gold“ an: als | |
sicheren Hafen vor Inflation, die das von zentralen Institutionen | |
kontrollierte Papiergeld nur allzu oft entwertet.[2] | |
## Miami als künftige Bitcoin-Hauptstadt | |
Bitcoins bieten allerdings auch die Möglichkeit, die anonym vollzogenen | |
Transaktionen einer Kontrolle weitgehend zu entziehen. Kein Wunder, dass | |
sie in den USA zu einem Feldzeichen der libertären Bewegung wurde, die | |
einen extremen Individualismus propagiert und den Staat ablehnt. | |
Besonders viele Fans hat die Kryptowährung im Silicon Valley. Zu ihren | |
bedeutendsten Verfechtern gehören Mitglieder der Libertären Partei, zum | |
Beispiel der Vorkämpfer des Goldstandards Ron Paul, der sich 2008 und 2012 | |
um die Präsidentschaftskandidat der Republikaner bewarb[3]. | |
Das gilt auch für zahlreiche techno-utopistische Unternehmer wie Tesla-Chef | |
Elon Musk oder Peter Thiel, einen der Mitbegründer von Paypal. Zu den Gurus | |
alternativer Kryptowährungen zählte auch der 2021 verstorbene John McAfee, | |
der mit seiner Antivirensoftware ein Vermögen verdient hatte. Auch er | |
stand der Libertären Partei nahe, für die er 2016 und 2020 als | |
Präsidentschaftskandidat antreten wollte, was er aber nicht schaffte. | |
Ein weiterer libertärer Vorkämpfer für die Kryptowährung ist Roger Ver, | |
auch unter dem Spitznamen „Bitcoin Jesus“ bekannt. Er ist der Besitzer des | |
Portals bitcoin.com, das Nachrichten und eine Vielzahl von Dienstleistungen | |
rund um den Handel mit Bitcoin anbietet. Seit er auf der Flucht vor den | |
US-Finanzbehörden die Staatsbürgerschaft von St. Kitts und Nevis annahm, | |
verkauft er auch Pässe dieser Steueroase, die natürlich in Bitcoin bezahlt | |
werden können. 2017 träumte er davon, ein libertäres Land namens Free | |
Society zu gründen, in der ausschließlich Kryptowährungen genutzt werden | |
sollten. | |
Bitcoiner sind eine sehr aktive Online-Community, die sich nicht nur mit | |
dem Schürfen von Bitcoins befassen. Sie tauschen sich in verschiedenen | |
Foren aus, wie zum Beispiel BitcoinTalk, das 21 Sprachen unterstützt und | |
fast 3,4 Millionen Nutzer hat. Oder der Bitcoin-Channel der | |
Community-Website Reddit mit 3,5 Millionen Mitgliedern. Dort wird über | |
Nachrichten zum Thema Kryptowährungen, über Wirtschaftstheorien, | |
Mining-Ideen und andere Geheimtipps diskutiert. | |
Natürlich gibt es inzwischen auch zahlreiche Fachmedien. Das bekannteste | |
ist das Bitcoin Magazine,das 2011 von dem damals 17-jährigen Blogger | |
Vitalik Buterin gegründet wurde, der vier Jahre später die | |
Blockchain-Plattform Ethereum schuf. Ether ist mittlerweile die nach | |
Bitcoin zweitgrößte Kryptowährung. | |
Bitcoins werden inzwischen weit über libertäre Kreise hinaus nachgefragt, | |
hauptsächlich aufgrund der Goldgräberstimmung, die die Währung seit einem | |
guten Jahr auslöst. Zwischen Oktober 2020 und März 2021 stieg der | |
Bitcoin-Kurs von knapp 10 000 auf über 60 000 US-Dollar – eine | |
außergewöhnliche Rendite für eine Finanzanlage. Dieser Aufwärtstrend wurde | |
nicht zuletzt dadurch angeheizt, dass sich diverse Silicon-Valley- und | |
Wall-Street-Größen an der Spekulation oder dem Handel mit Kryptowährungen | |
beteiligen. | |
Überdies gaben einige Analysten flammende und durchaus interessengeleitete | |
Empfehlungen ab. Sie überboten sich geradezu mit ihren Prognosen immer | |
neuer Höchststände, beflügelt von hohen Ersparnissen und weltweit | |
überschüssiger Liquidität. Entsprechend haben seit Ende 2020 viele | |
Privatpersonen auf der Suche nach schnellen Gewinnen ihr Erspartes in | |
Bitcoin investiert. Von Januar bis Juni 2021 stieg die Zahl der Anleger von | |
71 Millionen auf 114 Millionen, zumindest nach einer Schätzung im Auftrag | |
der Handelsplattform Crypto.com. | |
Wachstum nährt weiteres Wachstum. Der Erfolg eröffnet neue Horizonte und | |
neue Nutzungsmöglichkeiten, die wiederum die Glaubwürdigkeit der | |
Kryptowährungen erhöhen. Inzwischen wird das Interesse auch bei | |
US-amerikanischen Politikern jeglicher Couleur geweckt. Seit einer | |
Entscheidung der Bundeswahlkommission aus dem Jahr 2014 ist es Kandidaten | |
erlaubt, Bitcoin-Spenden für ihren Wahlkampf anzunehmen. Republikaner und | |
Demokraten wollen sich diese Chance nicht entgehen lassen. 2016 nahm | |
Senator Rand Paul, der Sohn von Ron, zum ersten Mal Bitcoin-Spenden an. | |
2020 machte es ihm der demokratische Vorwahlkandidat Andrew Yang nach. | |
Miamis republikanischer Bürgermeister Francis Suarez prahlte via Twitter, | |
er habe seine Stadt zur „Bitcoin capital“ gemacht habe, nachdem er im | |
August 2021 das digitale Zahlungsmittel MiamiCoin eingeführt hatte. Einige | |
Monate später verkündete der neue Bürgermeister von New York, der Demokrat | |
Eric Adams, ein ähnliches Projekt namens NYCoin, mit dem er seine Stadt zum | |
„Zentrum der Kryptowährungsindustrie“ machen werde. | |
Auch im Globalen Süden ist der Bitcoin auf dem Vormarsch. Laut der Studie | |
eines Blockchain-Beratungsunternehmens gehören Vietnam, Indien und Nigeria | |
zu den Ländern, in denen die Einführung von Kryptowährungen am weitesten | |
fortgeschritten ist.[4]Und der Financial Times zufolge hat der | |
Peer-to-Peer-Handel mit Bitcoin in Subsahara-Afrika – vor allem in Nigeria, | |
Kenia, Ghana, Südafrika, aber auch im Tschad – ein Rekordniveau erreicht. | |
In diesen Ländern entwickeln sich die Kryptowährungen offenbar als | |
Alternative zu den schwachen heimischen Währungen. Auch in Lateinamerika | |
geht es voran. In Venezuela etwa haben viele mit dem Bitcoin-Mining | |
begonnen. Sie nutzen die niedrigen Strompreise im Land, um sich angesichts | |
der Hyperinflation, die den Bolívar unter Druck setzt, ein zusätzliches | |
Einkommen zu verschaffen.[5] | |
Am Beispiel Venezuela lässt sich der Erfolg des Bitcoin in den meisten | |
Ländern des Globalen Südens erklären. Er erfüllt in Staaten mit schwachen | |
Währungen zwei wichtige Funktionen: zum einen als Spar- und | |
Werterhaltungsmittel und zum anderen als sichere und kostengünstige | |
Alternative für den Geldtransfer zwischen Emigranten und ihren Familien in | |
der Heimat. | |
Ein Sonderfall ist El Salvador, das am 9. Juni 2021 für Schlagzeilen | |
sorgte, als es per Gesetz den Bitcoin zur offiziellen Landeswährung neben | |
dem US-Dollar machte. Mittlerweile gibt es dort allerdings massive | |
Probleme, was vor allem mit der Talfahrt des Bitcoin-Kurses zu tun hat. Am | |
25. Januar forderte Internationale Währungsfonds die Regierung in San | |
Salvador auf, den Bitcoin nicht länger als zweite Landeswährung zirkulieren | |
zu lassen. | |
Dass Politiker, Unternehmen, Sparer und Migranten von San Salvador über | |
Hanoi bis New York verstärkt auf Bitcoin setzen, könnte sich noch als | |
riskant erweisen. Immer mehr Menschen lassen sich damit auf einen | |
„hochspekulativen Vermögenswert“ ein, wie es US-Finanzministerin Janet | |
Yellen formulierte.[6]Dies ist umso besorgniserregender, als der | |
spektakuläre Anstieg des Bitcoin-Kurses im vergangenen Jahr alle Merkmale | |
einer Finanzblase aufweist. „Die Bitcoin-Blase übertrifft bei weitem alle | |
bisherigen Finanzblasen“, formulierte es ein Analyst der Bank of | |
America.[7] | |
Ein Crash ist keineswegs ausgeschlossen. Seitdem die US-Notenbank eine | |
deutlich straffere Geldpolitik signalisiert, hat der Bitcoin bereits massiv | |
an Wert verloren. Der Schwenk der Fed dürfte nicht nur die Attraktivität | |
von Bitcoin als rettenden Hafen vor der Inflation verringern, sondern auch | |
den spekulativen Höhenflug der Aktien von US-Technologieunternehmen | |
beenden. | |
Im Übrigen hat sich gezeigt, wie nervös der Kurs der Kryptowährung auf | |
Entscheidungen einzelner Akteure reagieren kann. Im Februar 2021 hatte | |
Tesla verkündet, 1,5 Milliarden US-Dollar in Bitcoin zu investieren. Das | |
trieb den Kurs um mehr als 10 Prozent in die Höhe. Am 24. März erklärte | |
Konzernchef Musk dann, dass man Tesla-Autos bald mit Kryptowährung bezahlen | |
könne. Doch am 12. Mai machte er einen Rückzieher, auf den ein | |
beispiellosen Kurssturz folgte: Innerhalb weniger Tage lösten sich hunderte | |
von Milliarden Dollar in Luft auf. | |
Kurz zuvor hatte Tesla 10 Prozent seiner eigenen Bitcoin-Bestände | |
abgestoßen und damit einen Gewinn von 101 Millionen US-Dollar | |
eingefahren.[8]Für einige Kommentatoren war dies ein Beispiel für | |
Marktmanipulation nach dem Muster „pump and dump“, bei der der Preis einer | |
Anlage künstlich aufgepumpt wird, um sie anschließend für teures Geld | |
abzustoßen. | |
Der Bitcoin ist in der Tat besonders anfällig für Betrug und | |
Marktmanipulation. Da es weder Regulierung noch Aufsicht gibt, können die | |
größten Investoren ihre ganze Finanzmacht einsetzen, um die Kurse direkt zu | |
beeinflussen, ohne ernsthafte Sanktionen fürchten zu müssen. | |
Dass dies ein zentrales Motiv ist, zeigt schon die ungleiche Verteilung der | |
Kryptowährung: Etwas mehr als 2000 von insgesamt 20 Millionen | |
Bitcoin-Wallets (Konten), also 0,01 Prozent, enthielten im November 2021 | |
über 42 Prozent des gesamten Bitcoin-Vermögens.[9]Im Jargon der Szene | |
werden die Besitzer besonders großen Wallets als „whales“ bezeichnet. Diese | |
Wale sind reiche Investoren oder auch Handelsplattformen, die teils im | |
Namen ihrer Kunden, teils auf eigene Rechnung handeln. | |
Zur Manipulation der Kurse wird gern auf zwei bewährte Rezepte | |
zurückgegriffen: die Erteilung von Fake-Aufträgen (order spoofing) und der | |
Abschluss von Scheingeschäften (wash trading). Im ersten Fall wird der | |
Markt mit Kauf- oder Verkaufsaufträgen überschwemmt, was Kursausschläge | |
nach oben oder unten bewirkt, ohne dass die Aufträge tatsächlich ausgeführt | |
werden. Die zweite Methode besteht darin, dass ein Anleger eine Angebot | |
annimmt, das er selbst aufgegeben hat, womit das Handelsvolumen aufgebläht | |
und eine nicht vorhandene Liquidität vorgetäuscht wird. | |
Letztere Praxis wird vor allem von Bitcoin-Handelsplattformen angewandt, um | |
ihre Attraktivität zu steigern und Investoren anzulocken. Dem Bericht einer | |
koreanischen Tageszeitung zufolge entfielen zwischen August 2019 und Mai | |
2020 bei Coinbit, einer der größten Handelsplattformen für Kryptowährungen | |
in Südkorea, 99 Prozent des Handelsvolumens auf wash trading. Damit hatte | |
die Plattform 84 Millionen US-Dollar verdient. | |
## Die Währung der Spekulanten | |
Angesichts der enormen Volatilität und des spekulativen Charakters stellt | |
sich die Frage, was die wahre Natur von Bitcoin ist. Nach ökonomischer | |
Lehrmeinung dient Geld als Zahlungsmittel, als Recheneinheit – die Waren | |
einen Preis zuweist – und als Wertaufbewahrungsmittel. Der Bitcoin war zwar | |
ursprünglich als Zahlungsmittel gedacht, aber seine Funktion als | |
Wertaufbewahrungsmittel hat weitgehend die Oberhand gewonnen. Die vielen | |
Sparer und Investoren, die Bitcoins gekauft haben, um vom Kursanstieg zu | |
profitieren, verwenden sie schließlich nicht für ihre täglichen Einkäufe – | |
für die es außerhalb von El Salvador ohnehin wenig Gelegenheiten gibt. | |
Dass die digitale Währung von einer begrenzten Anzahl von Onlineshops und | |
Handelsplattformen als Zahlungsmittel akzeptiert wird, dient im Grunde nur | |
dazu, den Bitcoin-Besitzern ein Gefühl von Sicherheit zu geben, weil sie | |
ihre Krypto-Anlagen bei Bedarf „flüssig“ machen können. Als Recheneinheit | |
taugt der Bitcoin wegen der enormen Kursschwankungen ohnehin kaum. Zum | |
Beispiel wäre der Preis für ein Baguette im Mai 2021 innerhalb weniger Tage | |
von 20 auf 35 Mikrobitcoins (Millionstel Bitcoins) gestiegen. | |
Ein häufig außer Acht gelassenes Argument ist auch, dass Geld ein Gemeingut | |
darstellt. Da seine verschiedenen Funktionen für die Gesellschaft von | |
grundlegender Bedeutung sind, muss es demokratisch kontrolliert und von | |
Institutionen verwaltet werden, die das Gemeinwohl repräsentieren. | |
Andernfalls würde Geld sofort von privaten Interessen gekapert werden. Der | |
Bitcoin bleibt also in mehr als nur einer Hinsicht eine unvollständige | |
Währung. Aus diesem Grund wäre der Begriff Krypto-Asset eigentlich | |
angemessener als die Bezeichnung Kryptowährung. | |
Ein potenziell existenzielles Problem für den Bitcoin ist sein steigender | |
Energieverbrauch, also seine Umweltschädlichkeit. Schuld daran ist die | |
Funktionsweise der digitalen Währung, insbesondere das Verfahren zur | |
Sicherung der Transaktionsblöcke. Es beruht auf der sehr hohen | |
Rechenleistung, die zum Schürfen von Bitcoin erfordert wird. | |
Je mehr Miner es gibt, desto aufwändiger sind die Operationen, die dafür | |
durchgeführt werden müssen. Dieser Mechanismus dient vor allem dazu, die | |
Knappheit von Bitcoin zu gewährleisten und zu verhindern, dass die | |
Erstellung von Blöcken – als die Schaffung neuer Bitcoins – mit zunehmender | |
Rechenleistung immer weiter beschleunigt wird. | |
Eine solche Art der Geldschöpfung hat natürlich gravierende Auswirkungen | |
auf den Energieverbrauch. Denn mit steigendem Bitcoin-Kurs entsteht ein | |
Teufelskreis: Je höher der Kurs, desto größer der Anreiz für die „Miner�… | |
ihre Rechenleistung zu erhöhen, und desto mehr Energie ist erforderlich, um | |
eine „Belohnung“ zu erhalten. Bitcoin sorgt also für einen weltweiten | |
Wettlauf, was zur Entstehung riesiger Mining-Farmen mit hunderten | |
spezialisierten Rechnern geführt hat. | |
Nach dem Bitcoin-Energieverbrauchsindex der Universität Cambridge | |
verschlingen die Miner bei einem Verbrauchsniveau von Mitte November 2021 | |
pro Jahr 120 Terawattstunden, was etwa dem jährlichen Stromverbrauch von | |
Schweden entspricht.[10]Nach Berechnungen des Ökonomen Alex de Vries von | |
der niederländischen Zentralbank setzt der Verbrauch all der Computer, die | |
für das Mining eingesetzt werden, jährlich 64 Millionen Tonnen CO2 frei. | |
Der CO2-Fußabdruck einer einzigen Bitcoin-Transaktion entspricht demnach | |
dem summierten Abdruck von 1,8 Millionen Kreditkartenzahlungen. | |
Das ist umso fataler, als die Konfiguration, die für den wachsenden | |
Energieverbrauch des Bitcoin verantwortlich ist, nicht geändert werden | |
kann, ohne die grundlegenden Eigenschaften der Kryptowährung zu | |
beeinträchtigen. Für das „Trilemma der Skalierbarkeit“ ist mithin keine | |
Lösung sichtbar, meint Ethereum-Entwickler Buterin: Es sei unmöglich, | |
Sicherheit, Dezentralisierung und einen begrenzten Energieverbrauch | |
miteinander zu vereinbaren, wenn eine Blockchain in großem Maßstab | |
eingesetzt wird.[11] | |
Die einzige Möglichkeit, die verheerende Umweltbilanz des Bitcoin zu | |
verbessern, wäre die Umstellung des Mining auf erneuerbare Energien. Das | |
Bitcoin Mining Council, ein Netzwerk unabhängiger Miner, behauptet, eine | |
solche Umstellung sei bereits im Gange. Nach einer Studie der Universität | |
Cambridge vom September 2020 stammen jedoch 61 Prozent des verbrauchten | |
Stroms aus nicht erneuerbaren Energiequellen.[12]Das heißt: Ein digitaler | |
und dematerialisierter Vermögenswert des 21. Jahrhunderts basiert auf dem | |
Verbrauch von fossilen Energien der Vergangenheit. Man könnte es das große | |
Bitcoin-Paradox nennen. | |
Neben diesem Paradox gibt es ein weiteres Problem: die massenhafte | |
Produktion von Elektronikschrott. Laut einer Studie, die in der Zeitschrift | |
Resources, Conservation and Recycling veröffentlicht wurde, erzeugt das | |
Netzwerk jährlich 30 700 Tonnen Elektronikschrott – etwa genau so viel wie | |
die Bevölkerung der Niederlande.[13] | |
Angesichts der zahlreichen Probleme, die das Blockchain-Trilemma mit sich | |
bringt, haben einige Länder eine sehr pragmatische Lösung gefunden: das | |
gesetzliche Verbot. Am radikalsten geht dabei China vor. Schon Ende 2017 | |
wurden die Handelsplattformen für Kryptowährungen, auf denen 93 Prozent der | |
Bitcoin-Transaktionen weltweit stattfanden, im Inland schlicht verboten. | |
Einige Monate später verkündete die Zentralbank die Sperrung aller | |
Online-Handelsplätze für Kryptowährungen im chinesischen Internet. | |
2021 ging Peking noch einen Schritt weiter und untersagte auch den | |
Finanzinstituten, entsprechende Dienstleistungen anzubieten. Im Juni | |
wurden in der Provinz Sichuan 26 Bitcoin-Farmen geschlossen, die als zu | |
energieintensiv eingestuft wurden. Im September und Oktober wurden | |
schließlich alle Transaktionen mit Kryptowährungen und Mining-Aktivitäten | |
für illegal erklärt. | |
China hat sich so innerhalb weniger Jahre vom Bitcoin-Paradies zum Erzfeind | |
der Kryptowährungen entwickelt. Zumal andere Länder diesem Beispiel folgen | |
werden. Am 21. Januar verkündete die russische Zentralbank ihre Absicht, | |
die Verwendung von Kryptowährungen und das Mining in Russland zu verbieten. | |
Auch Indien will angeblich Handel und Zahlungen mit Kryptowährungen | |
verbieten, ihren Besitz aber tolerieren. Das eigentliche Ziel der Regierung | |
in Neu-Delhi ist – ähnlich wie in China – die Einführung einer nationalen | |
Digitalwährung. | |
Kryptowährungen haben ihr Ziel völlig verfehlt, nämlich „ein Zahlungssystem | |
zu werden“, erklärte Fed-Chef Jerome Powell in einer Senatsanhörung im Juli | |
2021. Die Europäische Zentralbank (EZB) sieht es genauso und bezeichnet die | |
Krypto-Assets als rein spekulatives Instrument. | |
Für den Bitcoin ist jedoch noch nicht alles verloren, da weder Fed noch EZB | |
bislang ein Verbot ins Auge fassen. Und sein Kurs hält sich trotz der | |
jüngsten Verluste auf einem relativ hohen Niveau. Eines steht jedoch fest: | |
Bitcoins sind weit davon entfernt, die Zukunft des Geldes darzustellen. Das | |
Versprechen eines dezentralisierten, von staatlicher und finanzieller Macht | |
befreiten Zahlungssystems hat sich in der Realität als etwas ganz anderes | |
entpuppt: als eine von Spekulanten dominierte Finanzblase. | |
1↑ [1][„Virtual Currency Schemes“], Europäische Zentralbank, Oktober 201… | |
2↑ [2][„Crypto Currency“], Forbes, 20. April 2011. | |
3↑ Siehe Ron Paul, „End the Fed“, New York (Grand Central Publishing) 200… | |
4↑ [3][„The 2021 Global Crypto Adoption Index“], 18. August 2021, | |
Chainalysis.com. | |
5↑ [4][„Venezuela: avec un prix de l‘électricité bas, le minage de | |
cryptomonnaies a le vent en poupe“], Capital,15. September 2021. | |
6↑ [5][„Bitcoin: qui est qui dans la guerre des crypto-monnaies (et comment | |
cela peut vous affecter)“], BBC, 13. Juni 2021. | |
7↑ [6][„Wall Street Wary of ‚Frothy‘ Stocks, Bubbly Bitcoin“], Reuter… | |
Januar 2021. | |
8↑ „Tesla annonce un bénéfice de 101M$ en bitcoins suite à son | |
investissement massif dans la cryptomonnaie“, Business Insider France, 27. | |
April 2021. | |
9↑ [7][Bitinfocharts.com]. | |
10↑ [8][Cambridge Bitcoin Electricity Consumption Index]. | |
11↑ [9][„Cleaning Up Crypto“], Internationaler Währungsfonds, Washington, | |
Herbst 2021. | |
12↑ [10][„3rd Global Cryptoasset Benchmarking Study“], University of | |
Cambridge, September 2020. | |
13↑ [11][„Bitcoin’s growing e-waste problem“], Digiconomist,17. Septemb… | |
2021 | |
Aus dem Französischen von Nicola Liebert | |
Frédéric Lemaire ist Wirtschaftswissenschaftler. | |
10 Feb 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://www.ecb.europa.eu/pub/pdf/other/virtualcurrencyschemes201210en.pdf | |
[2] https://www.forbes.com/forbes/2011/0509/technology-psilocybin-bitcoins-gavi… | |
[3] https://blog.chainalysis.com/reports/2021-global-crypto-adoption-index/ | |
[4] https://www.capital.fr/entreprises-marches/venezuela-avec-un-prix-de-lelect… | |
[5] https://www.bbc.com/afrique/monde-57346994 | |
[6] https://www.reuters.com/article/us-markets-flows-idUSKBN29D183 | |
[7] http://Bitinfocharts.com | |
[8] https://ccaf.io/cbeci/index | |
[9] https://www.imf.org/external/pubs/ft/fandd/2021/09/how-to-make-cryptocurren… | |
[10] https://www.jbs.cam.ac.uk/faculty-research/centres/alternative-finance/pub… | |
[11] https://digiconomist.net/bitcoins-growing-e-waste-problem/ | |
## AUTOREN | |
Frédéric Lemaire | |
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