# taz.de -- Der Soundtrack des Skalpells | |
> Schönheits-OP auf der Opernbühne: Die Uraufführung von Thierry Tidrows | |
> „Der Hässliche“ am Theater Dortmund ist eine Gesellschaftssatire | |
Bild: Ruth Katharina Peeck, Marcelo de Souza Felix und Anna Lucia Struck (v. … | |
Von Sophie Emilie Beha | |
Die Oper „Der Hässliche“ trifft einen Nerv der Zeit: In der am Theater | |
Dortmund uraufgeführten Oper setzt man sich mit [1][Schönheitsidealen und | |
Optimierungswahn] auseinander – ernst, absurd und kurzweilig. Die Oper „Der | |
Hässliche“, komponiert von Thierry Tidrow, basiert auf dem gleichnamigen | |
Theaterstück von Marius von Mayenburg aus dem Jahr 2000. Auch wenn der | |
Stoff schon über 20 Jahre alt ist, ist die Oper, hier in einer Inszenierung | |
von Zuzana Masaryk, hochaktuell. | |
Sie wird nicht auf der großen Bühne, sondern im kleineren Untergeschoss | |
aufgeführt, was sofort eine intime Atmosphäre schafft. Die Bühne ist | |
schlicht: Ein schwarz-weißer Drehtisch, der mal als OP- oder Büro-Tisch, | |
mal als Sockel und mal als Bett herhält. Zu Beginn der Oper, als die | |
ausgedünnten Dortmunder Philharmoniker einen dissonanten Klangteppich | |
weben, sitzt Lette (gespielt von Marcelo de Souza Felix) an ebendiesem | |
Tisch und ist schockiert. Eigentlich will er nur seine Erfindung bei einem | |
Kongress vorstellen, aber sein Chef will lieber seinen Assistenten Karlmann | |
(Daegyun Jeong) die Präsentation übernehmen lassen. Lette versteht nicht | |
warum und als er nicht lockerlässt, verrät ihm seine Frau Fanny (Anna Lucia | |
Struck) endlich den Grund: Lette ist unfassbar hässlich. Deshalb blickt sie | |
ihm auch nie direkt ins Gesicht. | |
Lette, der seine Hässlichkeit selbst nie bemerkt hat und sich bisher sehr | |
wohl gefühlt hat, ist mit einem Mal unglücklich. Er geht zusammen mit | |
seiner Frau zum Schönheitschirurgen Dr. Scheffler (Ruth Katharina Peeck), | |
der ebenfalls entsetzt ist über Lettes Gesicht. Es sei so hässlich, dass er | |
bei einer Operation nichts davon übriglassen könne. „Umso besser“, sagt | |
Fanny. Lette ist weniger begeistert, willigt aber dennoch ein. | |
Der aus Kanada stammende Tidrow, der gerade als Composer in Residence am | |
Theater Dortmund ist, vertont die folgende Schönheitsoperation | |
eindrucksvoll. Begleitet von hackenden Streicherakzenten machen sich Dr. | |
Scheffler und eine OP-Schwester (die verkleidete Fanny) zuerst über seine | |
Nase her. Dr. Schefflers Handbewegungen folgen den Instrumenten: das | |
Skalpell den zerfetzten Holzbläserakkorden und der Sauger den Geräuschen | |
der Bläser. Humorvolle Tonmalerei par excellence! | |
Die Operation glückt und Lette mutiert vom hässlichen Entlein zum schönen | |
Schwan. Dr. Scheffler und Fanny zeigen sich begeistert. Die Musik wird zum | |
ersten Mal tonal, lieblich, säuselnd – das ist so stark außerhalb der | |
vorhergegangenen Klangwelt, dass es fremd und unstimmig wirkt. Fanny küsst | |
gierig Lettes neues Gesicht und lockt ihn mit bezirzenden | |
Pseudo-Koloraturen ins Bett. | |
Ist Lette zunächst noch verwirrt ist – er kann sich selbst nicht | |
wiedererkennen –, gewöhnt er sich doch schnell an sein neues Aussehen und | |
die neue Rolle, die er damit in der Gesellschaft einnimmt. Auf einmal ist | |
er der Schönste und als solcher fährt er natürlich auch zum Kongress seiner | |
Firma. Plötzlich reißen sich die Frauen um ihn und die Firma macht 70 | |
Prozent mehr Umsatz – nicht aufgrund neuer Erfindungen, sondern weil Lette | |
sich durch sein neues Aussehen so gut verkaufen kann. | |
Alle wollen aussehen wie er, lassen sich umoperieren, und so sieht Lette | |
sich immer mehr Duplikaten seiner selbst gegenüber. Sein Marktwert sinkt | |
rapide und seine Identitätsspaltung schreitet voran. Als sich am Ende auch | |
noch sein Assistent operieren lässt, um in der Firma auszusteigen, und | |
Lettes Frau, von dem erotischen Überangebot überfordert, ihn betrügt, ist | |
der Tiefpunkt erreicht. Lette führt ein Selbstgespräch zwischen seinem | |
alten und seinem neuen Gesicht und ist anschließend kurz davor, sich von | |
einem Hochhaus zu stürzen. Dann aber hält ihn ein junger homosexueller Mann | |
zurück, der frisch von seiner Operation kommt und nun ebenfalls Lettes | |
Gesicht trägt. Beide verlieben sich in die eigene Schönheit und singen im | |
Liebesduett „Ich kann nicht leben ohne mich“. Gemeint ist hier allerdings | |
keine Selbstliebe, sondern pervertierte Eitelkeit. | |
„Der Hässliche“ ist bereits die dritte Komposition, die Thierry Tidrow für | |
das Ensemble der Jungen Oper komponiert hat. Die Musik ist größtenteils | |
atonal, sehr rhythmisch und zielgerichtet – und ebenso absurd humorvoll wie | |
das Libretto von Manfred Weiß. | |
Das Musiktheater fragt nach der Wertigkeit von Schönheit in einer | |
Gesellschaft, in der alle danach streben. Was daraus resultiert, drückt | |
ebenso buchstäblich wie doppeldeutig das schöne Sprichwort „sein Gesicht | |
verlieren“ aus. | |
22 Feb 2022 | |
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## AUTOREN | |
Sophie Emilie Beha | |
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