# taz.de -- Büdchen im Kiez | |
> Morgens um halb sieben öffnet Thi Ngan Nguyen ihren Kiosk. Um 18.30 Uhr | |
> schließt sie ihn wieder. Fast jeden Tag | |
Bild: Morgens | |
Von Tobias Hausdorf (Text und Fotos) | |
Alltag benötigt nicht viel Platz für seinen tagtäglichen Auftritt. Eine | |
Bühne von 14 Quadratmetern reicht. Zum Beispiel an der Berliner Allee Ecke | |
Smetanastraße in Berlin-Weißensee: der Zeitungskiosk. | |
Jeden Tag um 6.30 Uhr beginnt das Theaterstück. Dann öffnet Thi Ngan Nguyen | |
ihren Laden, am Wochenende etwas später. Um 18.30 Uhr schließt sie ihn | |
wieder, am Wochenende etwas früher. | |
Für Nguyen, die in Hanoi geboren ist und seit über 17 Jahren in Berlin | |
lebt, besteht der Alltag seit 5 Jahren darin, den Kiosk zu betreiben. | |
Früher hat sie in einer Änderungsschneiderei gearbeitet, heute verkauft sie | |
75 Stunden die Woche Zigaretten, Zeitungen und Zeitschriften von Auszeit | |
und brand eins über Raubfisch bis Die Zeit. Ein harter Job mit wenig | |
Auskommen und abhängig von einer Branche, die einen starken Wandel | |
durchmacht, die gedruckten Zeitungsauflagen sinken seit Jahren. | |
Bevor Nguyen ihren Kiosk eröffnet, muss sie jeden Tag eine halbe Stunde | |
Dinge vorbereiten: Noch im Dunkeln schließt die 40-Jährige als Erstes die | |
an den Kiosk geketteten Zeitungsständer auf und öffnet die beiden | |
Flügeltüren, die links und rechts zusätzliche Auslagen bilden. Sie knipst | |
ein Licht innen und eines außen an und stellt eine große Einkaufstüte mit | |
Zigaretten in den Innenraum. Aus Metallboxen an den Außenwänden holt sie | |
die aktuellen Zeitungen, die vom Vertrieb geliefert wurden. Über diese | |
Boxen gehen abends auch die unverkauften Exemplare zurück. Alles andere, | |
Süßigkeiten, Zigaretten, Getränke, kauft Thi Ngan Nguyen nach oder vor | |
ihrer Kioskschicht selbst ein. | |
Routiniert rollt sie die Ständer vor dem Kiosk auf ihre Positionen. Dann | |
sortiert sie Sudoku-Hefte und Tageszeitungen ein. Zwischen taz und New York | |
Times steckt Die Rote Fahne, eine sozialistische Zeitung. „Uropas kaufen | |
die“, sagt Nguyen und lacht. An diesem Freitag im Januar kommt kein Uropa | |
vorbei. Sie selbst liest den Berliner Kurier, „um zu wissen, was los ist“. | |
Die Boulevardblätter Kurier, BZ und Bild – „die laufen am besten“ – le… | |
Nguyen auf einen Stapel links neben die kleine Durchreiche. Die ist | |
ansonsten gerahmt von Spielzeug, Haribotüten, Sammelkarten, Tabakblättchen | |
und einer Pokémon-Mütze. | |
Um 7.35 Uhr hält Nguyens Sohn auf dem Weg zur Schule an und wechselt mit | |
seiner Mutter ein paar Worte auf Vietnamesisch. Das erste „Schönen guten | |
Morgen!“ ertönt zehn Minuten später. Ein älterer Mann mit Brille hat sich | |
eine Bild geschnappt, dazu soll es eine Packung Marlboro sein. „Was | |
krichste da?“ „8,60.“ Er gibt das Geld und wünscht noch einen schönen T… | |
Jeden Morgen komme er vorbei, erzählt Nguyen. Nach dem Preis frage er | |
trotzdem jedes Mal. Viele ihrer Stammkunden spürten die Preissteigerungen | |
bei Zeitungen und Zigaretten, erzählt sie. Sie selbst merkt es daran, dass | |
sie ab der Monatsmitte weniger verkauft. | |
Um 8.10 Uhr kommt ein weiterer älterer Mann mit Cap aus der Dämmerung an | |
den Kiosk, kauft die BZ für 1 Euro und geht, anders als die meisten, nicht | |
sofort wieder. Er muss noch etwas loswerden. Thema Testpflicht. Er sei | |
ungeimpft, weil „gesund!“. Es ist kein Smalltalk oder Gespräch, es ist ein | |
Monolog. Nguyen erträgt ihn stoisch. Das Leopardenmuster ihrer Jacke ist | |
wie ein dickes Fell. „Jeden Tag dasselbe“, sagt sie belustigt. | |
Als sie um halb neun die Zeit einsortiert, spricht ein Passant sie an: „Ob | |
ich kurz Feuer haben könnte?“ Sie hilft ihm aus. „Wunderbar! Danke dafür. | |
Gute Gedanken wünsch ich dir!“ Andere sind kürzer angebunden, wie der | |
Gebäudereiniger, der zum Frühstück zum Bäcker nebenan geht und nur den Euro | |
für die Zeitung bei Nguyen lässt. | |
Kurz vor neun mal kein Kunde: „Hab was für Sie, was Sie kennen und gut | |
läuft“, sagt ein Vertreter von Gizeh. Er gibt ihr einen Aufsteller für | |
Blättchen, der grün blinkt. Sie stellt ihn nah an die Kasse. „Dann wünsche | |
ich ein schönes Wochenende und gute Geschäfte!“ | |
Gegen 9 Uhr kommt die zehnte Person an den Kiosk spaziert. Eine Rentnerin | |
kauft die Süddeutsche Zeitung.Die wolle sie nicht abonnieren, weil sie ein | |
anderes Programm habe: „Sport machen, mich bewegen!“ Und wenn es der | |
tägliche Gang zum Kiosk sei. | |
Etwa 80 Prozent seien Stammkunden, erzählt Nguyen. Ihnen kann die | |
Verkäuferin direkt reichen, was sie wollen, sie müssen gar nicht fragen, | |
ein „Hallo“ reicht. Wie um 15 Uhr: Nguyen greift schon nach den Marlboro | |
Gold, als eine Altenpflegerin wie jeden Freitag zu ihr kommt, um sich mit | |
Zigaretten einzudecken. Sie macht etwas Smalltalk. Die Kundinnen und Kunden | |
scheinen es zu genießen: gleich erkannt zu werden und nicht bestellen zu | |
müssen. Doch die wenigsten kennen Nguyens Namen – und andersherum. | |
Da sie außer an Feiertagen und dem Geburtstag ihres Sohnes immer öffnet, | |
gehört der Kiosk zum Straßenbild, zu dieser Ecke nahe dem Weißen See, zur | |
Routine etlicher Leute. Und die Vorteile sind klar, wenn man eh nur ein, | |
zwei Sachen will: Kein Anstehen, kein Warten oder durch einen gesamten | |
Laden gehen. Im Edeka direkt nebenan würde auch der Rentner, der um 15.30 | |
Uhr mit Maske an den Kiosk kommt, nicht seine Zeitungen kaufen. Und so | |
landet der Berliner Kurier, die Märkische Oderzeitung, der Spiegel und die | |
Clausewitz, ein Magazin für Militärgeschichte, vor Nguyens kleinem | |
Verkaufsfenster. | |
Warum lieber Kiosk statt Supermarkt oder Abo? „Ach“, sagt er, „ich habe | |
schon beim Vorbesitzer gekauft. Seit Ende der 80er ist hier der Kiosk.“ | |
Eher eine beibehaltene Routine als ein richtiger Grund also? Er war | |
Drucker, ist Rentner und nun 92 Jahre alt. „In den Sechzigern hatte ich | |
zeitweilig zehn Zeitungsabos.“ Die hat er nicht mehr, er kaufe lieber am | |
Kiosk und sei es für einen Plausch. „Goethe soll im Sterbebett ja gesagt | |
haben, ‚Mehr Licht!’ Ich werde sagen: ‚Gebt mir meine Zeitung!‘“, sag… | |
noch und geht mit seinem Beutel voll Lektüre die Berliner Allee hinunter. | |
Nguyen hat sich inzwischen eine der Pikachu-Mützen aufgesetzt, die sie | |
verkauft. Wenn man auf einen Knopf drückt, leuchtet die oder wackeln die | |
Ohren. Ohne Mütze ist es kalt, obwohl sie eine kleine Standheizung im Kiosk | |
hat. Vor allem aber sorgt sie für Lächeln und ein paar Komplimente. Um | |
16.40 Uhr wollen zwei Schwestern die Mütze haben. Die Mutter ist glücklich: | |
„Ich muss hier jede Woche was kaufen, aber das ist ja wirklich toll.“ Sie | |
macht ein Foto ihrer Töchter und zusammen mit Nguyen, alle drei lachen mit | |
Pikachus auf dem Kopf. | |
Zum Spaß ruft Nguyen manchen älteren Stammkunden extra laut „Hallo“ zu. U… | |
wenn ihr langweilig wird, dann macht sie sich auf dem Handy über Youtube | |
vietnamesische Musik an und singt leise mit. Wenn gegen Mittag wenig los | |
ist, dann döst sie manchmal weg. Nachmittags löst ihr Sohn, der um die Ecke | |
aufs Gymnasium geht, sie kurz ab, damit sie auf Toilette kann. Ansonsten | |
besteht ihr Arbeitsalltag aus vielen „Um X Uhr kommt …“ und vielen „und | |
dann“, so wie dieser Text. | |
Nach Rentnern am Vormittag und Schülerinnen am frühen Nachmittag sind mit | |
der Dunkelheit ab 17 Uhr hauptsächlich Jugendliche und Erwachsene Nguyens | |
Kunden. Schnell Zigaretten fürs Wochenende oder Longpapers, also Blättchen, | |
für die Freitagabend-Joints holen. | |
Es pieselt und kaum jemand kommt mehr vorbei. Um 18.20 Uhr fängt Nguyen an | |
abzubauen. Das geht schneller als der Aufbau. Als spule man zurück, räumt | |
sie alles wieder in umgekehrter Reihenfolge weg. Seit eingebrochen wurde, | |
nimmt sie die Zigaretten nach der Arbeit in der großen Einkaufstüte wieder | |
mit nach Hause. Die geklauten Zeitungen hatten Kunden von ihr unter Autos | |
in einer Nebenstraße gefunden. | |
Zum Feierabend zeigt der Bildschirm an ihrer Kasse 88 Kunden an. „Hundert | |
wären gut.“ Um Punkt 18.40 Uhr schließt Thi Ngan Nguyen die Zeitungsständer | |
wieder an die Flügeltüren und schließt ihre kleine Bühne. „Morgen läuft�… | |
vielleicht besser.“ Morgen beginnt das Theaterstück von vorn. | |
29 Jan 2022 | |
## AUTOREN | |
Tobias Hausdorf | |
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