# taz.de -- debatte: Realpolitik zählt, nicht Werte | |
> Der Westen empört sich moralisch über Russland. Das ist falsch. | |
> Stattdessen sollte man die Sicherheitsinteressen von Präsident Putin | |
> ernst nehmen | |
Der Videogipfel zwischen dem russischen Präsidenten Putin und seinem | |
US-Kollegen Biden hat die Fronten geklärt. Wie bei diesem Gespräch am 7. | |
Dezember deutlich wurde, geht es Russland im Kern darum, ein weiteres | |
Vordringen der Nato in den postsowjetischen Raum zu blockieren. Vor allem | |
soll verhindert werden, dass die Ukraine der Nato beitritt. Und Biden hat – | |
kaum überraschend – nicht näher definierte wirtschaftliche Konsequenzen | |
angedroht, falls es zu einer russischen Militäraktion gegen die Ukraine | |
kommen sollte. | |
Die Nato hat in einer Erklärung am 16. Dezember verdeutlicht, dass sie es | |
als Russlands Aufgabe ansieht, den Konflikt zu deeskalieren. Sie vertritt | |
den Standpunkt, dass die Frage eines Nato-Beitritts lediglich eine | |
Angelegenheit zwischen der Ukraine und den 30 Nato-Mitgliedstaaten sei. | |
Damit stellt sie die Existenz legitimer russischer Sicherheitsinteressen in | |
Abrede und negiert letztlich eine „gemeinsame Sicherheit“ der Staaten | |
Europas. Viele westliche Experten sprechen jetzt von unüberbrückbaren | |
Differenzen, wollen an der gerade von den USA aggressiv forcierten | |
Nato-Erweiterung festhalten und geben sich der Illusion hin, Russland durch | |
verschärfte Sanktionen zum Einlenken bewegen zu können. Dabei sollte doch | |
nach den Erfahrungen der vergangenen Jahre klar sein, dass Russland sich | |
durch – zumal öffentliche – Positionierungen des westlichen Bündnisses | |
nicht demütigen lassen wird. | |
Die Ukraine-Krise bleibt brisant, und die Kriegsgefahren sind nicht | |
gebannt. Dieser ernüchternde Befund steht in krassem Gegensatz zu den | |
beiderseitigen Bemühungen zu Beginn der 1990er Jahre, den Kalten Krieg zu | |
überwinden und einen Raum gemeinsamer und gleicher Sicherheit in Europa zu | |
schaffen. Zu diesem Zweck waren die Nato-Staaten bereit, Konzessionen zu | |
machen. So enthält schon der 2+4-Vertrag über Deutschland aus dem Jahr 1990 | |
eine Obergrenze für die Bundeswehr; außerdem verbietet er die Stationierung | |
von ausländischen Streitkräften sowie von Kernwaffenträgern auf dem | |
Territorium der ehemaligen DDR. Und schließlich ist die | |
Nato-Russland-Grundakte 1997 nicht nur von dem Bekenntnis zu unteilbarer | |
Sicherheit und Zusammenarbeit getragen; in ihr hat die Nato auch dezidiert | |
zugesagt, keine „substanziellen Kampftruppen“ und Kernwaffen in den | |
Nato-Beitrittsstaaten zu stationieren. | |
Dies waren Schritte zu einem Interessenausgleich. Heute dagegen sind | |
konfrontative Töne und ein unversöhnlicher Antagonismus vorherrschend. Auch | |
unter dem Eindruck der zunehmend autoritären und repressiven Innenpolitik | |
in Russland weigert sich die westliche Seite, von Putin verlangte | |
Sicherheitsgarantien und die geforderte Wahrung eines Einflussbereiches als | |
legitim anzuerkennen. | |
Die Außenpolitik der neuen Bundesregierung scheint im Wesentlichen durch | |
moralische Entrüstung über das Regime Putin geprägt zu sein. Statt sich | |
nachhaltig für eine Deeskalierung und Verhandlungen mit Russland | |
einzusetzen, beschäftigt sie sich intern offenbar vornehmlich mit der | |
Frage, ob unter den obwaltenden Umständen die Inbetriebnahme von Nord | |
Stream 2 überhaupt erfolgen darf. Am Rande sei erwähnt, dass mögliche | |
russische Gegenmaßnahmen wie der Stopp von Energielieferungen völlig | |
unbeachtet bleiben. Auch die realpolitische Erwägung, dass eine | |
wirtschaftliche Schwächung Russlands sicherheitspolitische Instabilitäten | |
zur Folge haben kann, scheint keine Rolle zu spielen. | |
Überhaupt: Außenpolitisch scheint man vor allem auf „Wertebasierung“ statt | |
Realpolitik zu setzen. Dabei muss es doch darum gehen, eine kriegerische | |
Auseinandersetzung in Europa zu verhindern. Deshalb ist es notwendig, | |
Chancen für Dialog und Verhandlungen zu nutzen. Am 17. Dezember hat | |
Russland Vorschläge vorgestellt, und sie bieten zumindest einen Ansatz für | |
Gespräche, selbst wenn sie in zentralen Punkten völlig inakzeptabel sind. | |
So kann die Nato beispielsweise den geforderten vertraglichen Verzicht auf | |
eine Erweiterung keinesfalls akzeptieren. Die russischen Vorschläge für | |
eine vertrauensbildende Rüstungskontrolle könnten hingegen eine Grundlage | |
für ernst zu nehmende Verhandlungen bieten. Gleiches gilt für die russische | |
Absicht, den Einsatz bestimmter Waffen zu beschränken. So ist es | |
beispielsweise auch für den Westen von Interesse, über eine | |
Nichtstationierung von Raketen mittlerer und kürzerer Reichweite zu | |
verhandeln, nachdem der entsprechende INF-Vertrag 2019 weggefallen ist. | |
Zur Wahrung unserer zentralen Sicherheitsinteressen sollte die | |
Bundesregierung eine führende Rolle im Bündnis übernehmen. Die deutsche | |
Politik sollte sich nicht von den markigen Sprüchen der „Falken“ irritieren | |
lassen, die vor einer Beschwichtigung Russlands warnen. Aktuelle | |
Beteuerungen der Ampel, man stimme sich mit den Bündnispartnern ab, reichen | |
nicht aus. Es gilt jetzt vielmehr, sich aus der „diplomatischen Deckung“ zu | |
begeben, um die gefährliche Eskalationsspirale im Verhältnis zu Russland zu | |
durchbrechen. Trotz schroffer Gegensätze und inakzeptabler russischer | |
Drohgebärden muss der Westen auf einen Interessenausgleich setzen, um den | |
Frieden zu wahren. Ein expliziter Verzicht auf die Nato-Erweiterung kann | |
nicht akzeptiert werden. Allerdings sollte die Nato einseitig auf die | |
Aufnahme der Ukraine zum jetzigen Zeitpunkt verzichten und sie jetzt auch | |
nicht weiter aggressiv propagieren. | |
Die neue Bundesregierung sollte nicht ausschließlich unsere Werte zugrunde | |
legen und dem Wünschbaren nachhängen; sie sollte sich vielmehr an den | |
Realitäten orientieren und sich an den luziden Ausspruch von Egon Bahr | |
erinnern: „In der internationalen Politik geht es nie um Demokratie oder | |
Menschenrechte. Es geht um die Interessen von Staaten. Merken Sie sich das, | |
egal, was man Ihnen im Geschichtsunterricht erzählt.“ | |
28 Dec 2021 | |
## AUTOREN | |
Rüdiger Lüdeking | |
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