# taz.de -- Das Dazwischen, das Dahinter | |
> Julia Franck fasst die Themen, die sie in ihren bisherigen Büchern | |
> aufgeworfen hat, noch einmal zu einem neuen Roman zusammen: „Welten | |
> auseinander“ | |
Bild: Ostberlin 1978, als Julia Franck mit ihrer Familie nach Westdeutschland a… | |
Von Anke Dörsam | |
Als Angela Merkel in ihrer Rede am Tag der Deutschen Einheit 2021 in Halle | |
von ihren eigenen Erfahrungen sprach, sprach sie über ihre Erfahrungen als | |
Ostdeutsche in der vereinten Republik, als Sonderfall wahrgenommen zu | |
werden, nur als „angelernte Bundesdeutsche und Europäerin“. Es wurde als | |
ihre persönlichste Rede aufgenommen. | |
Diese Rede hielt sie erst jetzt, nach 16 Jahren Amtszeit. | |
Julia Francks Geschichte, geboren 1970 in Ost-Berlin, 1978 über das | |
Notaufnahmelager Marienfelde ausgereist und bis 1983 in Schleswig-Holstein | |
aufgewachsen, ist eine dieser so unterschiedlichen Lebenswege, die zu | |
Deutschland gehören. Erst jetzt, nach fünf Romanen und einer | |
Erzählsammlung, fasst sie all die Themen, die sie in ihren bisherigen | |
Veröffentlichungen aufgeworfen hat, unter der Frage zusammen, wie von dem | |
erzählt werden kann, von dem es keine gewohnte Erzählung gibt. | |
Von dem, was trotzdem da ist, auch wenn es in den Narrativen, mit denen man | |
sein Leben erzählen soll, nicht funktioniert, und davon, im Dazwischen des | |
Auseinanderbrechens, das nicht zusammengefügt werden kann, eine Balance zu | |
finden, eine, von der aus man neu aufbrechen kann. | |
Julia Franck spannt in „Welten auseinander“ die Eckpunkte ihrer Geschichte, | |
die sie immer schon in Interviews genannt hat, und die Episoden, die | |
bereits Inspiration für ihre zahlreichen Veröffentlichungen waren, unter | |
einen neuen Bogen. Die Ausreise aus der DDR und das Zwischenland des | |
Notaufnahmelagers in „Lagerfeuer“, das Berlin im Zwischenzustand der 90er | |
(sie war 1983 als Jugendliche wieder nach Westberlin gezogen) in | |
„Liebediener“, die Geschichte einer Mutter, die ihren Sohn am Ende des | |
Kriegs auf einem Bahnsteig zurücklässt, im 2007 mit dem Deutschen Buchpreis | |
ausgezeichneten Roman „Die Mittagsfrau“, die Beziehung zweier Geschwister | |
untereinander in einer gewaltvollen Mutterbeziehung in „Rücken an Rücken“. | |
All diese Themen und Figurenkonstellationen werden hier in einen | |
Gesamtbogen geknüpft, verbunden mit den Namen und Daten von Julia Francks | |
Biografie, wie sie sich in dem Sammelband „Ein Spaziergang war es nicht“ | |
nachvollziehen lassen, in dem sie sich mit ihrer Zwillingsschwester an ihre | |
gemeinsamen Erfahrungen zwischen Ost und West, mit der Ausreise und dem | |
Leben in Westdeutschland auf dem Land erinnert. | |
Es ist, als wollte sie den zahlreichen autofiktionalen Erscheinungen der | |
letzten Jahre eine andere Geschichte entgegensetzen. Eine Geschichte vom | |
Auswegefinden, im Unterwegssein, im Abstand, im Nennen und Beschreiben. | |
Zugleich erzählt der Roman von der Fremdheit, die entsteht, wenn man ein | |
anderes Leben gelebt hat, als die, die einen danach fragen, erwarten. „Was | |
konnte das Mädchen den Altersgenossen erklären. Es wollte nichts | |
Persönliches preisgeben, das mehr Fragen und Misstrauen erzeugt hätte. Die | |
Wahrheit war unwahrscheinlich, ein Chaos, über das man nicht geradeheraus | |
sprechen konnte. Das Mädchen musste Dinge erfinden, damit es den | |
Mitschülern glaubwürdig erschien. | |
In der Kindheit, noch in Ostberlin, verbrachte die Hauptfigur Julia viel | |
Zeit bei ihrer Großmutter Inge, die als Opfer des NS-Regimes in der DDR | |
Privilegien genießt und als bildende Künstlerin in Rahnsdorf lebt. Hammer | |
und Meißel verwendet sie, um aus ihren Steinblöcken das Kunstwerk | |
herauszuarbeiten, das sie in ihm sucht. Julia Franck dagegen arbeitet in | |
„Welten auseinander“ mit Mosaiksteinchen, Versatzstücken, mit Welten | |
auseinanderliegenden Einzelteilen und dem Versuch, diese zu einem Ganzen zu | |
fügen. Vom Großen ins Kleine, aus der Perspektive des Einzelnen auf die | |
Geschichte zweier Staaten, die sich auf den Trümmern des NS-Regimes | |
formierten und zu einer einzigen Republik wiedervereinigt haben, in dem es | |
immer noch die Mosaiksteinchen der Menschen all dieser vorigen | |
Existenzformen des Staates gibt. | |
Besonders in den Verzweigungen ihrer Familiengeschichte gibt es einige | |
Längen und Wiederholungen, die sich vor das eigentlich Erzählte schieben | |
wollen, als nehme die Erzählerin Anlauf, als zögere sie, zu den Teilen | |
ihrer Geschichte, zu denen sie weniger Abstand hat, vorzudringen. Diese | |
Familiengeschichte hängt wie eine Tür in den Angeln der Eckdaten der | |
deutschen Diktaturen des 20. Jahrhunderts, aber sie gibt in einer Art Hin- | |
und Herschwingen einer Geschichte des Heranwachsens den Raum, für den das | |
Erzählen in seinem Tasten nach unvertrautem Land eine Eindringlichkeit | |
schafft. | |
Dieser Roman sucht sich seinen Weg wie durch ein Flussbett der Fakten, die | |
auf dem Weg liegen, er fährt oft auf kurze Sicht und findet seinen Halt in | |
der Liebesgeschichte zwischen Stephan, dem Klassenkameraden aus | |
bürgerlichen Verhältnissen in Westberlin, und Julia, dem Kind mit Wurzeln | |
in verschiedenen Teilen von Deutschland, das in einem Dazwischen lebt, vor | |
allem zwischen Erwachsenen, die nur einen Teil ihrer Verantwortung tragen. | |
Dabei entwickelt er eine Wärme und Uneingeschränktheit, die gerade auf den | |
zögernden, suchenden Bruchsteinen des für das Kind so schwer erzählbaren | |
Lebens so ehrlich und geerdet erscheint. | |
Es sind die Auswege und Umwege der jungen Frau, in deren Leben die nächsten | |
Abschnitte nicht vorgezeichnet sind, die einem beim Lesen die unklaren, | |
aber auch die fester geknüpften Beziehungen so intensiv miterleben lässt. | |
„Wir lieben uns mit Worten, im Sprechen, im Zuhören, im Schweigen. Wir | |
wollen mehr wissen, Dinge erfahren, die keiner sonst weiß. Scheherazade. | |
Dabei droht keine Gefahr. Wir erzählen uns von gleichgeschlechtlichen | |
Erfahrungen, vertrauen uns Dinge an, die wir noch niemandem erzählt haben | |
und deuten anderes nur an, worüber wir noch nicht sprechen wollen, | |
vielleicht nie. Wie er seine Finger aneinander bewegt, wie tief seine | |
Stimme einen Satz beginnt, sein Blick zu anderen, sein Blick zu mir.“ | |
Während Namenswechsel, Verkleidungen, Haare, hinter denen man sich | |
verbirgt, immer wieder die Frage thematisieren, wer hier eigentlich wen | |
sieht, wer gesehen wird, und welche Verhüllungen erst dazu führen, dass | |
jemand gesehen wird, findet der Roman im Neuland zwischen den Welten, von | |
denen die Deutschen sich oft nicht erzählen, Leben, das hoffentlich im Jahr | |
31 nach der Wiedervereinigung Menschen zum Nachfragen bringen wird. | |
23 Oct 2021 | |
## AUTOREN | |
Anke Dörsam | |
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