# taz.de -- tazđŸthema: Pflege fĂŒr die Seele | |
> Anthroposophische HeilpĂ€dagogik sieht vermeintliche âBehinderungâ als | |
> Spielart der individuellen Entwicklung | |
Bild: Die Förderschulen arbeiten grundsĂ€tzlich nach demselben Lehrplan wie al… | |
Von Cordula Rode | |
Bereits die erste Waldorfschule, die 1919 in Stuttgart gegrĂŒndet wurde, | |
berĂŒcksichtigte auch den heilpĂ€dagogischen Aspekt der anthroposophischen | |
PĂ€dagogik. Auf Anregung von Rudolf Steiner selbst, der die Schule | |
konzipiert hatte, wurde 1920 eine âHilfsklasseâ fĂŒr diejenigen | |
SchĂŒler:innen eingerichtet, die dem Unterricht nur langsamer folgen | |
konnten und deshalb besondere Förderung benötigten. 1924 suchten drei junge | |
Menschen, die eine Einrichtung fĂŒr Kinder und Jugendliche mit besonderem | |
UnterstĂŒtzungsbedarf aufbauen wollten, UnterstĂŒtzung bei Rudolf Steiner. | |
Daraus entstand das âHeil- und Erziehungsinstitut fĂŒr | |
seelenpflegebedĂŒrftige Kinder Lauensteinâ in Jena. Im selben Jahr hielt | |
Steiner in der Schweiz seinen bekannten âHeilpĂ€dagogischen Kursâ. In diesem | |
Vortragszyklus, der sich an Ărzt:innen und HeilpĂ€dagog:innen | |
richtete, legte er sein grundlegendes VerstÀndnis der heilpÀdagogischen | |
Arbeit mit Kindern dar, das bis heute die Basis der anthroposophischen | |
Förderschulen bildet. | |
Rund 70 heilpÀdagogische Waldorfschulen sind heute zusammengeschlossen in | |
der Arbeitsgemeinschaft HeilpÀdagogischer Schulen, die vom Bund der Freien | |
Waldorfschulen und dem Anthropoi Bundesverband gegrĂŒndet wurde. Die | |
Besonderheit des anthroposophischen Konzeptes der HeilpÀdagogik ist die | |
grundlegende Herangehensweise an das Thema Behinderung und besonderer | |
Förderbedarf â das Augenmerk ruht dabei nicht auf dem vermeintlichen | |
âDefizitâ des Kindes, sondern auf der ganzheitlichen Betrachtung seiner | |
Entwicklung. | |
Die anthroposophische Dreiteilung des Menschen umfasst Leib, Seele und | |
Geist. Der Geist gilt dabei als der innere Kern des Menschen, der | |
unverletzbar ist. Körper und Seele können durch EinschrÀnkungen und | |
Entwicklungsverzögerungen das geistige Ich an der vollstÀndigen Entfaltung | |
hindern. | |
âBereits Rudolf Steiner hat in seinem HeilpĂ€dagogischen Kurs darauf | |
hingewiesen, dass in jedem Menschen in irgendeiner Ecke seiner Seele eine | |
UnnormalitĂ€t sitztâ, erklĂ€rt Thomas Maschke. Als Professor fĂŒr Inklusive | |
PĂ€dagogik leitet er das Institut fĂŒr WaldorfpĂ€dagogik, Inklusion und | |
InterkulturalitĂ€t der Alanus Hochschule Mannheim, die LehrkrĂ€fte fĂŒr die | |
Waldorf-Förderschulen ausbildet. Er blickt selbst auf lange Jahre der | |
Berufserfahrung als Lehrer an einer anthroposophischen Förderschule zurĂŒck. | |
âDie Waldorf-HeilpĂ€dagogik sieht nicht primĂ€r auf die kognitive Entwicklung | |
und deren Defizite, sondern schaut genau hin, auf welchem Wege das Kind zu | |
erreichen ist.â Die vermeintliche âBehinderungâ wird vielmehr als eine | |
Spielart der individuellen Entwicklung gesehen, die ganzheitlich betrachtet | |
werden muss. | |
Daraus ergibt sich auch ein weiterer bedeutsamer Unterschied zur regulÀren | |
Förderschule, erlĂ€utert Thomas Maschke: âUnsere Förderschulen arbeiten | |
grundsĂ€tzlich nach demselben Lehrplan wie alle anderen Waldorfschulen.â | |
Was sich im ersten Moment wie ein Ding der Unmöglichkeit anhört, hat aber | |
einen denkbar einfachen Hintergrund: Es ist die Aufgabe der Lehrkraft, die | |
Inhalte so aufzubereiten, dass die SchĂŒler:innen in der Lage sind, sie | |
erfassen zu können, ihre Vermittlung zu intensivieren und zu | |
individualisieren. Karl Schubert, der die Förderklasse an der ersten | |
Waldorfschule leitete, sprach damals davon, die âBerge berger und die | |
FlĂŒsse flĂŒsser zu machenâ. | |
Dieses Konzept stellt natĂŒrlich auch besondere Anforderungen an die Lehrer | |
und Lehrerinnen. Das Studium an der Hochschule in Mannheim unterscheidet | |
sich in einigen Punkten vom konventionellen Lehramtsstudium. | |
âSelbstverstĂ€ndlich lernen unsere Studierenden die Inhalte inklusiver | |
PĂ€dagogik und auch die Grundlagen der Diagnostikâ, so Thomas Maschke. âAber | |
in einigen Bereichen gehen wir ĂŒber diese Anforderungen deutlich hinaus.â | |
So stehen nicht nur sehr viel mehr Praktika auf dem Lehrplan der | |
Studierenden, sondern auch tĂ€gliche Doppelstunden Kunst â Zeichnen, Musik, | |
Eurythmie und vieles mehr geben den angehenden LehrkrÀften das | |
Handwerkszeug, ihre SchĂŒtzlinge auf allen erdenklichen Wegen zu erreichen, | |
ihnen Inhalte zu vermitteln und ihnen Hilfe anzubieten, ihre Persönlichkeit | |
zu entwickeln. | |
âFĂŒr Rebecca war die Waldorf-Förderschule ein ganz groĂer GlĂŒcksfall.â | |
Stephan Hermsens Tochter leidet am seltenen Wolf-Hirschhorn-Syndrom, das | |
mit körperlichen und kognitiven EinschrÀnkungen verbunden ist. Seit ihrem | |
siebten Lebensjahr besucht die inzwischen 23-JĂ€hrige die Heliand-Schule, | |
den Förderzweig fĂŒr Geistige Entwicklung der Freien Waldorfschule Essen, | |
der 1998 gegrĂŒndet wurde. Die rund 80 SchĂŒler:innen werden in sehr | |
kleinen Klassen beschult. âFĂŒr meine Tochter war diese Schule genau die | |
richtige Wahlâ, berichtet der Vater. âSie liebt den vielseitigen Unterricht | |
mit Bewegung, handwerklichen, kĂŒnstlerischen und hauswirtschaftlichen | |
Aufgaben.â Die jĂ€hrlichen Berichte am Ende des Schuljahres zeigen aus | |
seiner Sicht, wie intensiv die Beziehung der Lehrer:innen zu Rebecca ist | |
und mit welcher Sorgfalt ihre individuellen BedĂŒrfnisse erkannt und | |
gefördert werden. | |
16 Oct 2021 | |
## AUTOREN | |
Cordula Rode | |
## ARTIKEL ZUM THEMA |