Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Politikanalyse von Luisa Neubauer: Dreams Are Their Reality
> Nach 16 klimapolitisch verlorenen Merkel-Jahren und einem
> wirklichkeitsfernen Wahlkampf wird keine neue Bundesregierung stehen
> können, die angemessene Antworten auf die Klimakrise vorstellt.
Von [1][LUISA NEUBAUER]
Der Wahlkampf ist fast vorbei und das Geheimnis nicht gelüftet. Man hat es
geschafft, derart viel Wirklichkeit aus dem Wahlkampf herauszuhalten, dass
praktisch nicht aufgefallen ist, wie brenzlig die Lage ist. Man stelle sich
vor: Wir erleben eine Jahrhundertwahl, die politische Führung einer der
Hauptverursacher der Klimakrise wird neu gewählt und es gibt keine
ernsthafte Debatte über die Tiefe der Eingriffe, die notwendig sind, um uns
aus dieser Krise zu befreien. Keines der politischen Lager, ob mit Öko-DNA
oder ohne, spricht aus, wie gravierend die Veränderungen sein werden – die
Veränderungen, die uns bevorstehen, wenn man sich entscheidet zu handeln,
und jene, die zu erwarten sind, wenn man es bleiben lässt.
Man muss staunen.
Es ist eine dramatische wie beeindruckende Leistung, schließlich bricht die
Unzumutbarkeit dieser 1,2 Grad wärmeren Welt jeden Tag aufs Neue an die
Oberfläche. Es ist nicht normal, dass in den USA Kühlhallen aufgestellt
werden müssen, um Menschen vor der Hitze der immer unbewohnbareren Regionen
zu schützen, dass Kanada ganze Ortschaften an die Flammen verliert. Es ist
auch nicht normal, dass der Himmel über China den Niederschlag eines Jahres
in wenigen Stunden fallen lässt, dass der finnische Wald brennt wie nie und
dann auf einmal der Ozean, dass das Abendessen mancher Türkei-Urlauber von
Flammenmeer beleuchtet wird, dass der östliche Amazonas-Regenwald seine
Funktion als grüne Lunge verliert.
## Katastrophen-Ignoranz der Regierung
Zu bestaunen sind nicht nur die Katastrophen allein, sondern auch die
überraschte Routine, mit der darauf reagiert wird. Bestürzung wird mit
Normalisierung gemischt, man steht schockiert vor komplett erwartbaren
humanitären Notständen, um nur wenige Tage später zur Tagesordnung
zurückzukehren. Die deutsche Regierung hat den Sport der
Katastrophen-Ignoranz perfektioniert. »Weil jetzt so ein Tag ist, ändert
man nicht die Politik«, sagt der CDU-Kanzlerkandidat und
nordrhein-westfälische Ministerpräsident Armin Laschet zuverlässig an so
einem Tag, an dem sein Bundesland punktuell nicht wiederzuerkennen ist.
Mindestens so beeindruckend wie die Katastrophen und deren paradoxe
politische Verarbeitung ist auch die Gelassenheit, mit der die
Öffentlichkeit auf diese politischen Totalausfälle reagiert. Während man
von jedem Autofahrenden erwartet, sich gegen die Gefahr eines potenziellen
Autounfalls zu versichern und gleichzeitig möglichst vorsichtig zu fahren,
demonstriert die Regierung, wie es aussieht, wenn man sich dem Konzept der
Risikominimierung verweigert. Man lässt beispielsweise zu, dass komplette
Hochwasserrisiko-Regionen in Deutschland ohne flächendeckende Warnsysteme
auf die nächsten Fluten hinleben. Die Regierung glaubt offenkundig so wenig
an die reale Gefahr sorgfältig prognostizierter Starkregenereignisse, dass
sie weder in ausreichend Sirenen noch Krisenprävention wie etwa
Hochwasserschutz investiert. Und dennoch tritt niemand zurück, als diese
Fehler herauskommen, man zuckt kaum mehr zusammen.
»Leute, wir haben uns komplett verrannt, und nun wissen wir auch nicht
genau weiter«, wäre die ehrliche Botschaft des Sommers gewesen. Was diese
Monate stattdessen passiert, ist politische Akrobatik auf einer
selbstgebauten Projektionsfläche. Denn selbstverständlich bekennt man sich
heute als demokratische Partei zum 1,5 Grad-Ziel. Nur macht kein Programm
ein tragfähiges Angebot, wie man mit einer guten Wahrscheinlichkeit unseren
gerechten Beitrag zu dessen Einhaltung leisten könnte. Wir sprechen von
einem deutschen CO2-Restbudget von rund vier Gigatonnen, nach aktuellen
Zahlen.
## Keine Partei stellt sich dem Ausmaß der Krise
Offensichtlich unterscheidet sich der Grad der Wirklichkeitsverweigerung in
den verschiedenen Parteien. Letztendlich läuft es aber trotzdem auf ein
überparteiliches Interesse heraus, nur so viel Klimakatastrophe im
Wahlkampf zuzulassen, wie man meint, politische Antworten darauf zu haben.
Da kein Parteiprogramm die reale Tiefe und Schwere des ökologischen
Kollapses aufgreift, da es keinen Kanzlerkandidat:in gibt, der bereit ist,
darüber zu sprechen, wie viel sich ändern wird, wächst auf allen Seiten ein
Interesse, ein Teil der Wirklichkeit zu verschleiern.
Im Wahlprogramm der Union findet man die Wörter »Hitze«, »Wasserknappheit«
und »Ernteausfall« kein einziges Mal, dafür wird auf 39 Seiten über
Innovation gesprochen. Man reduziert die Klimakrise auf einen Bruchteil
ihrer Gefährlichkeit, nuschelt die potenziellen Zumutungen im Falle echter
Klimapolitik vom Tisch, die wahre Wucht der kranken Wälder und verseuchten
Böden lässt man vorsichtshalber ganz weg. Erst dann kann die CDU etwa
feststellen, dass die Klimakrise überhaupt kein so großes Problem wäre,
wenn das Land etwas moderner wäre. Die FDP sieht die Klimakrise
überraschenderweise vor allem als Konsequenz mangelnder Innovationskraft
und verklemmter Märkte. Die Grünen können endlich ein ganzes Programm lang
sagen »wir haben es euch doch gesagt«, was auch stimmt, aber auch ihr
Klimaschutz darf nicht wirklich spürbar sein, eine Zumutung in Form von 16
Cent Benzinaufpreis schon gar nicht, die Verarbeitung des
Veggie-Day-Traumas hält an. Die SPD macht sich schockierend ehrlich, sie
tut immerhin nicht mal so, als hätte sie die Lage im Griff – was womöglich
daran liegen könnte, dass man ihr seit Jahren nicht mehr abnimmt, dass sie
jenseits der Social-Media-Kanäle des Willy-Brandt-Hauses irgendwas im Griff
hat.
## Dämonisierung von Klimaschutz
Und es geht weiter, man hat diesen Sommer nicht nur maximalerfolgreiche
Wirklichkeitsreduzierung praktiziert. Gemeinsam hat man auch das größte
Geheimnis von allen überdeckt: Dass schlicht niemand, also wirklich
niemand, genau wissen kann, wie das genau funktionieren soll: eine
Demokratie, die so schnell handelt, wie man handeln müsste. Eine
Industrienation, die nicht nur ohne Emissionen, sondern ohne irgendeinen
Anspruch auf ökologischen Ressourcenverschleiß auskommt.
Immerhin, die ersten, notwendigen Schritte Richtung 1,5-Grad-Politik sind
ja längst bekannt: keine neuen fossilen Projekte, kein Erdgas als
»Übergangslösung«, keine neuen Autobahnen. Dazu das Ende der vertikalen
Expansion, also von Flächenverbrauch, Massentierhaltung, Monokultivierung.
Und dann natürlich achtsamer und weniger, also nicht nur mehr Elektro,
sondern vor allem weniger Auto, weniger Fliegen, weniger Fleisch. Das Ganze
ehrlich, ohne Energiewende im Extraterritorialen, ohne CO2-Schönrechnen im
Austausch von Baumülantagen in Peru, ohne Aufgeben, sobald jemand
»Verbotskultur« haucht. All das fordert und überfordert. Das macht man
nicht aus Großzügigkeit oder guter Laune heraus. Nein, man macht das, wenn
es wirklich nicht anders geht. Wenn man in einer Krise ist.
An dieser Stelle rächt sich, dass die lautesten politischen Stimmen des
Landes dieser Republik die letzten drei Jahrzehnte weißgemacht haben, dass
die große Gefahr vom Klimaschutz ausgeht, nicht von der Klimakrise. Das
musste auch so gemacht werden, denn ein gewichtiger Teil der politischen
Praxis in der Vergangenheit hatte etwas mit mehr Emissionen zu tun. Die
Klimakrise wurde folglich normalisiert, inhaliert, Emissionen wurden zum
logischen Preis für alles Tolle und Freiheitliche und Fortschrittliche in
der Welt. Echter Klimaschutz wurde dämonisiert, zum Problem von Grünen und
Greenpeace degradiert und solange diskursiv verprügelt, dass es bis vor
wenigen Jahren nicht einmal mehr eine Debatte über Maßnahmen gab, die mit
einer 2,5-Grad-Politik vereinbar wären. Praktisch, wenn man Politik für und
mit Kohle von RWE, Gas von Putin und Autos aus dem Ländle machen möchte.
Blöd, wenn man die Bevölkerung dann auf einmal doch für radikalen
Klimaschutz gewinnen will.
## Die deutsche Politik kennt keine Antworten auf diese Zerstörung
Über dieses große, politisch-antizipierte Missverständnis der letzten 30
Jahre muss man mit den Menschen sprechen. Man müsste sie vorwarnen, dass es
so nicht weitergehen wird, nicht weitergehen kann. Als diesen Sommer
kurzfristig halb NRW anstieg, schien es fast so, als würde die Wirklichkeit
sich doch noch in den Wahlkampf reindrängeln. Und wie könnte es auch anders
sein, war Frau Merkel diejenige, die für einen kleinen Moment die
Wirklichkeit ans Licht holte: »Die deutsche Sprache kennt kaum Worte für
diese Zerstörung«, sagte sie kurz nach der Flutkatastrophe mit Blick auf
die Trümmer. Und fast hallte damit die große Wahrheit des Tages mit: »Die
deutsche Politik kennt keine Antworten auf diese Zerstörung.«
Die Wahl steht unmittelbar bevor, und die Wucht der Wirklichkeit konnte in
weiten Teilen im Verborgenen gehalten werden. Am Ende dieser Wahl wird
damit keine Bundesregierung stehen können, die angemessene Antworten auf
die Krise vorstellt – es sei denn, die Koalitionspartner entscheiden sich
nach der Wahl dazu, radikaleren und schnelleren Klimaschutz umzusetzen, als
in jedem der Wahlprogramme vorgesehen ist. Was man nach dieser Wahl
exekutieren könnte, wäre eine Arbeitsgrundlage. Eine Koalition, die im
Gegensatz zur derzeitigen nicht in Fundamentalopposition zur
1,5-Grad-Politik agiert. Aber es wird hart werden, in jedem Fall. 40 Jahre
versäumter Klimaschutz, 16 verpasste Merkel-Jahre und nicht mehr als 14
Jahre bis zur Klimaneutralität in Deutschland – wir werden zur Aufholjagd
antreten müssen. Wir werden für jeden Funken Wirklichkeit in den
politischen Debatten kämpfen müssen. Immerhin: Es wird sich lohnen.
LUISA NEUBAUER ist Klimapolitikaktivistin. Gerade erschienen (mit Bernd
Ulrich): Noch haben wir die Wahl. Tropen 2021 – 237 Seiten, 18 Euro
16 Sep 2021
## LINKS
[1] /Luisa-Neubauer/!a73830/
## AUTOREN
Luisa Neubauer
## ARTIKEL ZUM THEMA
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.