# taz.de -- debatte: Außenpolitische Leerstelle | |
> Sicherheitspolitik und Europa spielten im Wahlkampf kaum eine Rolle – mal | |
> wieder. Dabei geht bei Digitalisierung und Klima ohne Brüssel nicht viel | |
Außenpolitische Themen haben im zurückliegenden Wahlkampf praktisch nicht | |
stattgefunden. Dabei hat es in der deutschen Politik und Öffentlichkeit ein | |
eklatantes Missverhältnis zwischen Eigen- und Fremdwahrnehmung gegeben – | |
wieder einmal, möchte man sagen. Schon im Wahlkampf 2017 überwog in Politik | |
und Medien die Binnensicht auf die drängenden Fragen der Zeit. Themen wie | |
Europa oder Sicherheitspolitik tauchten nur in Fußnoten auf. Das Besondere | |
war diesmal, dass dies angesichts eines beachtlichen internationalen | |
Interesses an der Wahl in Deutschland geschah. Es empfiehlt sich ein Blick | |
in die Kommentare der internationalen Presse, um zu begreifen, welche | |
Bedeutung dieser Wahl zugeschrieben wird. In Paris, Washington, Moskau und | |
Peking fragt man sich, wohin das Land und Europa nach der Ära Merkel | |
international hinsteuern werden. | |
Ja, mit Außenpolitik sind offenbar keine Wahlen zu gewinnen, und bei Themen | |
wie etwa der Flüchtlingskrise beschäftigen sich im Wahlkampf 2017 Politik | |
und Öffentlichkeit zu sehr mit den Folgen und zu wenig mit den Ursachen. | |
Jedoch war dieses Wahlkampfjahr nicht arm an außenpolitischen Ereignissen – | |
und somit an Vorlagen für Debatten. Der Truppenabzug aus Afghanistan, die | |
Instabilität Malis oder der U-Boot-Deal mit Australien waren Schlagzeilen, | |
zu denen eine breite öffentliche Debatte über die Positionen der Parteien | |
gerechtfertigt gewesen wäre. Auch EU-Themen wie der Schutz des Rechtsstaats | |
in Polen und Ungarn, Europas „Green New Deal“ oder Stabilisierungsmaßnahmen | |
der Eurozone, landläufig „gemeinsame Schulden“ genannt, hätten eine | |
inhaltliche Auseinandersetzung verdient. Die Tagespolitik böte in | |
Wahlzeiten einen Anstoß für grundsätzliche Debatten über die Positionen der | |
Parteien: Wie halten sie es mit internationalen Bündnissen und | |
Organisationen und gemeinsamen Werten in Europa und der Welt? Aber eine | |
tiefgreifende Debatte hat gefehlt. | |
Die Gründe dafür sind zweierlei. Erstens lässt sich aus deutscher und | |
europäischer Perspektive der Eindruck gewinnen, dass sich die Welt mit der | |
Abwahl Trumps in eine scheinbar neue internationale Übersichtlichkeit | |
gefügt hat. Vorbei ist – vorerst – eine Zeit der US-amerikanischen Willkü… | |
in der einer der wichtigsten Verbündeten die eigenen Partner in Europa und | |
Nato auf internationalem Parkett düpiert und für unantastbar gehaltene | |
internationale Normen missachtet hat. Mit US-Präsident Biden ist in | |
internationalen Fragen wieder mehr Verlass auf die Vereinigten Staaten, so | |
die geläufige Meinung. Das Fahrwasser in der internationalen Politik | |
scheint somit ruhiger geworden zu sein. Zudem verbinden Deutschland und | |
Europa mit der Biden-Regierung ein gemeinsames Wertefundament, das | |
Bekenntnis zu internationalen Organisationen und die Betonung der | |
Gestaltungskraft von Diplomatie. Scheinbar – da war ja noch ein | |
überhasteter und mit den engsten Bündnispartnern nicht abgestimmter Abzug | |
aus Kabul. Vergessen wird zugleich auch, dass Deutschland und die EU im | |
Systemwettbewerb zwischen den USA und China Zaungast sind. Dies | |
verdeutlicht das ohne Wissen der Nato-Partner ausgehandelte U-Boot-Abkommen | |
zwischen Australien, Großbritannien und den USA. Frankreich wurde in | |
letzter Minute ausgebootet. | |
Für Australien und die USA geht es im Kern um sicherheitspolitische und | |
nicht wirtschaftliche Interessen. Ziel ist es, Chinas militärischen | |
Einfluss im Indopazifik in Schach zu halten. Im Zweifel werden auch | |
zukünftig sicherheitspolitische Überlegungen in Asien Vorrang gegenüber | |
europäischen Bündnispartnern haben. | |
Zweitens sind seit Beginn der Coronapandemie die sozioökonomischen | |
Herausforderungen und die Handlungsfähigkeit des Staates stärker ins | |
Zentrum des Bewusstseins der Öffentlichkeit gerückt. Bei der Frage nach den | |
wichtigsten Problemen des Landes hat sich die Bedeutung von Themen wie | |
Terrorismus oder Einwanderung laut dem Eurobarometer im Zeitraum von Herbst | |
2019 bis Frühjahr 2021 etwa halbiert. Das spiegelte sich in Teilen im | |
Wahlkampf wider. Olaf Scholz etwa trat zwar mit einem Themendreiklang aus | |
„Zukunft. Respekt. Europa.“ an – substanzielle Debatten und Reden zur | |
Europapolitik hat man jedoch in seinem Wahlkampf vermisst. Doch gerade bei | |
den wichtigsten Zukunftsfeldern Digitalisierung und Klima geht ohne Brüssel | |
nicht viel. | |
Die außenpolitische und europapolitische Leerstelle kann von einer neuen | |
Bundesregierung als Chance verstanden und genutzt werden. So bietet sich | |
ein ausreichend großer Gestaltungsspielraum für einen Paradigmenwechsel. Es | |
muss darum gehen, die Durchsetzungsfähigkeit der deutschen und europäischen | |
Außenpolitik im Systemwettbewerb mit Autokratien zu stärken. In Zeiten von | |
Klimakrise, gesellschaftlicher Konkurrenz mit Autokratien und | |
technologischem sowie wirtschaftlichem Wettbewerb sollte eine wertebasierte | |
Außenpolitik auf einer Systemtrias aus offener Gesellschaft, demokratischen | |
Werten und Institutionen sowie sozialer Marktwirtschaft setzen. | |
Um offensiv und selbstbewusst gegenüber Staaten wie China oder Russland | |
auftreten zu können, gehört mehr Transparenz in die Wirtschaft, um mögliche | |
Einflussnahmen autokratischer Kräfte offenzulegen. Des Weiteren muss die | |
Korruption eingedämmt werden. Die gezielte Einflussnahme Aserbaidschans auf | |
europäische Politiker:innen ist dafür ein erschreckendes Beispiel. Als | |
weiteres probates Mittel kann sich die Diversifizierung der deutschen | |
Exportwirtschaft erweisen, um sich von Ländern wie China unabhängiger zu | |
machen und somit der Durchsetzung von europäischen Interessen etwa bei den | |
Menschenrechten mehr Kraft zu verleihen. | |
Um all dies umzusetzen, bedarf es einer Neujustierung der Außenpolitik. An | |
der hat es in 16 Jahren Merkel gefehlt und sie könnte jetzt Teil einer | |
sozial-liberal-ökologischen Erneuerungsagenda werden. | |
1 Oct 2021 | |
## AUTOREN | |
Florian Ranft | |
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