# taz.de -- heute in bremen: „Es gab nur zehn Exemplare, von Hand zu Hand wei… | |
Interview Liz Mathy | |
taz: Herr Venghaus, was hat die Geschichte von einigen Frauen, die sich | |
1979 in einer Leningrader Küche trafen, mit der Ausstellung zu tun? | |
Philipp Venghaus: 1979 gab es die Initiative einer Frau, von Leningrad aus | |
eine eigene Zeitung von Frauen für Frauen herauszugeben, der sich | |
Gleichgesinnte anschlossen. Sie kannten sich aus publizistischen Kreisen im | |
Untergrund, aber fühlten sich in ihrer feministischen Kritik an den | |
Auswirkungen der Missstände in der Sowjetunion auf die Lebensumstände der | |
Frauen auch dort nicht gehört. Wir haben diese, damals illegalen, | |
Publikationen gelesen und uns gefragt, wie wir sie Menschen zugänglich | |
machen können. Weil diese Erfahrungen und Geschichten so plastisch sind, | |
haben wir die Form der Ausstellung gewählt. Sie zeigt Texte von damals, | |
Objekte und Ausschnitte der vielen Zeitzeug:inneninterviews, die wir | |
geführt haben. | |
Welche Themen haben die Frauen in der Zeitung bewegt? | |
Das waren Fragen von Kinderbetreuung, die Wohnungsfrage, die Frage der | |
Geburt, der Abtreibung oder Arbeitsteilung in der Familie. Dazu kam etwas | |
später die Frage der Einziehung der Söhne im Afghanistankrieg. Das | |
Themenfeld hat sich auch auf Prostitution, Obdachlosigkeit und | |
Gewalterfahrungen ausgeweitet. | |
Wie funktionierte die Verbreitung und welche Gefahren brachte sie mit sich? | |
Es waren klassische Publikationen des Samisdat, also des Selbstverlages im | |
Untergrund. Das heißt, die Frauen haben alles selbst gemacht, vom Verfassen | |
bis zum Verteilen. Von der Publikation „Die Frau und Russland“ gab es – w… | |
zunächst vielleicht unbedeutsam klingt – wohl nur zehn Exemplare, die aber | |
von Hand zu Hand weitergegeben wurden. Sie wurden schließlich, nachdem sie | |
übers französische Konsulat nach Paris geschmuggelt worden waren, in | |
linken, kommunistischen Kreisen im Westen verbreitet. Über Radiosender | |
kamen die Inhalte dann wieder in die Sowjetunion zurück. Die Berichte der | |
Frauen stellten die Selbstdarstellung des Landes infrage und so wurden sie | |
einen Tag vor der Olympiade in Moskau im Jahr 1980 ausgewiesen. | |
Die Zeitschriften wurden von Feministinnen aus dem Westen mit großem | |
Interesse rezipiert. Woran lag das? | |
Die linken Frauen im Westen waren überrascht über die Defizite, die trotz | |
propagierter Gleichheit da waren, erzählte uns eine Zeitzeugin. So war | |
Abtreibung zwar legal, aber hatte in ihrer Durchführung den Charakter einer | |
Folter. In Verbindung mit dem Fehlen von Verhütungsmitteln konnte das | |
geradezu als Strafe verstanden werden. | |
In welchem Verhältnis stehen die feministische Kritik und das sowjetische | |
Frauenbild einer gleichberechtigten Genossin? | |
Die Frauen lehnten das sowjetische Modell von Gleichheit ab. Das Modell | |
bedeutete in der Praxis, dass sie auf dem Arbeitsmarkt zwar | |
gleichberechtigt, aber gleichzeitig für die Familie zuständig waren, was zu | |
einer extremen Doppelbelastung führte. Diese wurde verschärft durch die | |
angespannte Wohnungs- und auch die schlechte Versorgungslage. Zudem ging | |
diese Gleichheit philosophisch von einer männlichen Norm aus, wodurch | |
Themen, die sie als Frauen betrafen wie Sexualität, Verhütung oder Geburt, | |
herausfielen. Darin fühlten sie sich von einem internationalistischen | |
Gleichheitsfeminismus nicht verstanden. | |
23 Sep 2021 | |
## AUTOREN | |
Liz Mathy | |
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