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# taz.de -- Siedlung im Wandel
> Die Künstlerin Ahu Dural führt in der Ausstellung „neues bauen 13629“
> durch die Siemensstadt ihrer Kindheit. Einen wichtigen Teil nehmen dabei
> ihre türkischen Eltern ein
Bild: Auch Durals Mutter war eine der vielen Arbeiterinnen im Siemenswerk
Von Marlene Militz
Es ist ein spätsommerlicher Sonntag. Auf dem Fahrrad wird es warm, wenn die
Sonne scheint, und sofort kühl, wenn man unter dem schattigen Blätterdach
entlangfährt. Treffpunkt ist die Wiese vor dem Wasserturm im
Jungfernheidepark. Schon von Weitem ist der Startpunkt des
Künstlerinnenspaziergangs von Ahu Dural zu erkennen. Ein Kreis aus bunten,
dreibeinigen Hockern umschließt einen roten Tisch, mit zweieinhalb Meter
langen Beinen. Am Kreis angekommen und von der Künstlerin begrüßt, ist noch
Zeit, die vergrößerten Fotos anzuschauen, die auf den Hockern angebracht
sind.
Die Installation heißt „neues bauen 13629“. Der Name setzt sich zusammen
aus der wohl wichtigsten architektonischen und städtebaulichen Bewegung in
Deutschland im letzten Jahrhundert sowie der Postleitzahl des Gebietes, in
dem das Neue Bauen mit großen Werksiedlungen modernen sozialen Wohnraum
schuf: der Siemensstadt.
Hier wuchs die Künstlerin Ahu Dural als älteste Tochter türkischer
Einwanderer auf. In dem Spaziergang folgt Dural ihrer eigenen Biografie,
die von einer Kindheit und Jugend in der Siemensstadt geprägt ist. Und sie
folgt der Biografie ihrer Mutter. Die Fotos auf den Hockern zeigen Mädchen
mit Haarreifen oder eine Familie am Esstisch. Auf den meisten Bilder sind
Arbeiterinnen der Siemenswerke bei Firmenfeiern zu sehen, mal mit und mal
ohne Kittel. Eine von ihnen ist Durals Mutter.
Ein Scan ihres Siemens-Ausweises hängt an einem der langen Tischbeine:
DURAL, Özler, 335/70447, daneben ein Porträt einer schönen jungen Frau mit
dunklem Haar und dunklen Augen, lächelnd. Sie ist auf all den Fotos aus den
Siemenswerken zu finden. Immer die Jüngste, immer die Hübscheste.
Der Spaziergang beginnt mit einer kurzen Einführung, während alle auf den
bunten Hockern Platz nehmen. Die Sitzflächen gleichen denen von kleinen
Pferden mit Sprungfedern auf Spielplätzen, erklärt Dural. Sie zeigt ein
Foto von sich und ihrer Schwester auf einem Spielplatz, glücklich auf
Pferden wippend. Die Transformation einer Kindheitserinnerung in ein
Möbelstück, durch dessen Benutzung man buchstäblich in die eigene Kindheit
zurückversetzt wird, ist typisch für die künstlerische Praxis Durals.
Nach Abschluss ihres Studiums der Illustrativen Zeichnung an der
Universität der Künste in Berlin ging Dural nach Wien an die Akademie der
Bildenden Künste und studierte Performative Kunst und Bildhauerei. Dural
interessiert sich für Architekturen und Räume, die sie nun zum
Ausgangspunkt nimmt, die eigene Familienbiografie zu untersuchen.
Ihre Mutter, Özler, kam als 11-jähriges Mädchen nach Deutschland, erzählt
sie, während sich die Gruppe in Bewegung setzt. Sie zog zur Tante und
kümmerte sich zwei Jahre lang um ihre Cousins und Cousinen, bevor sie in
die Schule geschickt wurde und mit 16 Jahren ihr Zeugnis bekam. Damit
bewarb sie sich bei Siemens und wurde zu einem Gespräch und
Geschicklichkeitstest eingeladen.
Ein paar Tage nach ihrem 17. Geburtstag fing Özler an zu arbeiten. Sie
bestückte Mikrochips im Wernerwerk 15, zusammen mit einer Gruppe aus
Frauen, von denen viele Immigrantinnen waren wie sie: Türkinnen,
Jugoslawinnen, Griechinnen. Jede Gruppe hatte eine Vorarbeiterin. Ihre war
Frau Eichmann, die die jüngste Arbeiterin unter ihre Fittiche nahm und
darauf achtete, dass Özler nicht mit dem Rauchen anfing.
Inzwischen sind wir bei Durals Schule, dem
Carl-Friedrich-Siemens-Gymnasium, am Rande des Parks angekommen. Der
Jugendclub aus ihrer Schulzeit steht immer noch unverändert. Es geht weiter
durch die grünen Straßen der Siedlung Siemensstadt aus den 1920er Jahren.
Bei ihr handelt es sich nicht um die Ringsiedlung, an der Architekten wie
Hans Scharoun und Walter Gropius mitarbeiteten, und die seit 2008 zum
UNESCO-Weltkulturerbe gehört. Dieser berühmte Teil der Siemensstadt steht
heute nicht im Fokus. Stattdessen ist die Siedlung Siemensstadt Zeugnis der
Reformarchitektur, die – im Gegensatz zum neuen Bauen – an traditionellen
Baumaterialien, Bauweisen und Stilelementen festhielt.
Wir gelangen zum Saatwinkler Damm, dem ehemaligen Wohnort der Familie
Dural. Hier ist es auch grün, aber weit weniger idyllisch als noch einige
Straßenzüge zuvor. Eine heruntergekommene braun-gelbe Fassade verblendet
die langen Gebäudezeilen aus den 70er Jahren. Dural kommt mit einem
Anwohner ins Gespräch, der seinen Sohn auf dem Arm trägt. Mittlerweile sei
das Gebäude, so wie viele hier, im Besitz der Deutsche Wohnen SE. 1.100
Euro kalt zahle man nun für eine Wohnung, für die Durals Familie damals 570
DM gezahlt hat bei einem Monatsgehalt von 2.500 DM. Özler war die
Hauptverdienerin der Familie. Getan hat sich an den Wohnanlagen seither
nichts. Seitdem Tegel stillgelegt ist, so erzählt er, sei die Gegend hier
im Wert gestiegen. So wie die Angst, dass Teile der Siedlung bald Neubauten
weichen müssen.
Auf dem Rückweg, der an Durals Kindergarten vorbeiführt, wird über den
kommenden Volksentscheid diskutiert, der die Enteignung der Deutsche Wohnen
SE anvisiert. Ihre Eltern wohnen schon seit 2005 nicht mehr in
Siemensstadt, erzählt Dural. Die Abteilung ihrer Mutter wurde 1995
aufgelöst, jede Arbeiterin bekam eine Abfindung. Aber es war eine schöne
Zeit, hier, in der Siemensstadt.
„neues bauen 13629“. Noch bis zum 3. Oktober, sonntags, von 14 bis 16 Uhr
16 Sep 2021
## AUTOREN
Marlene Militz
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