# taz.de -- berliner szenen: Die Nachbarn auf der Bank | |
Der Sommerabend ist lau, ich beschließe, am Nordhafen auf einer Bank ein | |
Buch zu lesen. Während die letzten Sonnenstrahlen durch die Rohbauten | |
dieser unfassbar hässlichen Neubausiedlung hinter dem Hauptbahnhof | |
verschwinden, erweitert sich die anwesende Uferpromenadengesellschaft | |
zunächst um eine Entenfamilie, dann um zwei Mittvierziger mit Fahrrad. | |
„’n Abend, die Bösen mit dem Bier sind da“, trötet mir der eine entgegen | |
und lässt sich mit seinem Kumpel zusammen auf die Nachbarbank plumpsen. Ich | |
gebe mich teilnahmslos und sage: „Ach, alles gut“, was gelogen ist. Die | |
beiden lassen ihr Dosenbier zischen und starten die Musikbox, es läuft | |
Xylofonmusik, was mich ziemlich irritiert. Wer hört denn Xylofonmusik? | |
Ich lese weiter. Es dauert keine halbe Minute, und auf der Bank neben mir | |
geht es um Politik. Ich lese nun nicht mehr weiter, tue aber so, als täte | |
ich es. Afghanistan: „Weeste, die Kramp-Karrenbauer backt Flammkuchen, | |
während die die Leute evakuieren.“ Ich bekomme Hunger. Bundespolitik – ganz | |
heißes Eisen zurzeit, und die analytischen Fähigkeiten auf der Nachbarbank | |
erreichen unerwartete Höhen: „Der Scholz ist vorne, aber warte mal, bis die | |
Esken das Maul wieder aufmacht.“ | |
Die Sonne ist mittlerweile weg, das macht die Häuser gegenüber auch nicht | |
schöner, es wird kalt. Aus dem Nichts wird der eine wehmütig: „Am Anfang | |
vom Sommer hab ich mir jesacht, dieset Jefühl, du kommst nachts um vier aus | |
der Kneipe … und es sind 27 Grad und es riecht so nach modrigem Backstein. | |
Dit wollt ick haben diesen Sommer. Hab ick aber nich jekriegt.“ | |
Ich breche auf, gehe fröstelnd nach Hause. Morgen, beschließe ich, mache | |
ich mich auf die Suche nach Backsteinhäusern. Ich dachte immer, in dieser | |
Stadt wäre alles verputzt. Julian Sadeghi | |
9 Sep 2021 | |
## AUTOREN | |
Julian Sadeghi | |
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