# taz.de -- Michelangelo in Berlin | |
> Eine Mo(nu)mentaufnahme aus Anlass der neuen Monografie von Horst | |
> Bredekamp | |
Bild: Michelangelo: Delphische Sibylle. Sixtinische Kapelle | |
Von Michael Diers | |
Der Renaissancekünstler Michelangelo ist in Berlin kein Unbekannter. Auf | |
Streifzügen durch die Stadt begegnet einem zum Beispiel der Linienbus 200, | |
der auf seiner Stirn leuchtend eine Fahrt zum Prenzlauer Berg und zur | |
Haltestelle Michelangelostraße annonciert. Die Straße trägt ihren Namen | |
seit dem 18. Februar 1964. | |
Damals, am 400. Todestag des Künstlers, wurde der Verlängerten Ostseestraße | |
„in einem feierlichen Akt“ dieser prunkvolle Name verliehen. Da ist das | |
Kupferstichkabinett der Staatlichen Museen, das eine originale Zeichnung | |
des Meisters und einige Kopien von Schülerhand zu seinen Schätzen zählt. Da | |
ist in Mitte die Humboldt-Universität, an deren Institut für Kunst- und | |
Bildgeschichte Horst Bredekamp in seinen Michelangelo-Vorlesungen über | |
Jahre ein breites und begeistertes Publikum mit dessen Werk vertraut | |
gemacht hat. Ferner ist da die italienische Botschaft am Tiergarten, die | |
ihre Tore regelmäßig für Veranstaltungen zur Kultur des Landes öffnet. Und | |
da ist – last but not least – in Wilmersdorf der Verlag Klaus Wagenbach, | |
der seit seiner Gründung einen Italienschwerpunkt in Sachen Literatur, | |
Kunst und Kunstgeschichte pflegt. | |
Wenn sich jetzt, wie kürzlich, das Kupferstichkabinett, die Botschaft und | |
der Verlag mit dem Autor zusammetun, um dessen neues, im doppelten Wortsinn | |
gewichtiges, um nicht zu sagen monumentales Buch mit dem knapp gehaltenen, | |
aber unzweideutig sprechenden Titel „Michelangelo“ vorzustellen und im | |
Museum durch einen öffentlichen Vortrag samt Diskussion sowie Speis und | |
Trank im Festsaal der Botschaft zu feiern, dann wird klar, dass der neben | |
Leonardo und Raffael namhafteste Künstler der westlichen Welt, der bereits | |
zu Lebzeiten den Beinamen „il divino“ (der Göttliche) trug, in Berlin | |
tatsächlich ein Zuhause hat. Der Berliner Kunsthistoriker hat der | |
Darstellung von Leben und Werk des in sämtlichen Gattungen – Zeichnung, | |
Malerei, Skulptur und Architektur – herausragenden Künstlers, der darüber | |
hinaus ein begabter Dichter war, eine fulminante, über 800 Seiten | |
umfassende Monografie gewidmet. | |
Ziel von Bredekamps Publikation ist es, die klassische Biografie hinter | |
sich zu lassen und zu einer Darstellung zu gelangen, welche die Betrachtung | |
und Analyse der Werke und ihrer Formensprache ins Zentrum rückt, ohne die | |
Schilderung der Vita und Zeitgeschichte zu vernachlässigen. Statt einer | |
Helden- und Genie-Erzählung, wie es die Gattung der Biografie nahelegt, | |
sollen die Kunstwerke das Leben erläutern und nicht umgekehrt. | |
Das ist einfacher gesagt als getan, denn die ausgetretenen Pfade der | |
Gattung Monografie kommen in der Regel ohne Hymnen und Huldigungen nicht | |
aus. Lässt man hingegen die Kunstwerke sprechen, indem man sie präsentiert | |
und analysierend beschreibt (und über zahlreiche Abbildungen vor Augen | |
stellt), dann entgeht man mit einer Werkmonografie der Falle der | |
biografischen Nacherzählung. Michelangelo hat, wie es viele | |
Selbstäußerungen nahelegen, seine Kunst ebenfalls wichtiger als die eigene | |
Vita genommen, das eine zumindest dem anderen nachgeordnet. | |
Dass auch Bredekamp einer gewissen Heroisierung seines Gegenübers nicht | |
ganz entkommt, ist angesichts des hohen Rangs und der enormen | |
Wirkungsgeschichte Michelangelos, kurz seiner immensen Strahlkraft | |
verzeihlich. Kann man gleichzeitig Abstand halten und auf Augenhöhe mit | |
seinem Forschungsgegenstand sein? Wichtig sind die Resultate, und wichtig | |
ist der daraus gewobene Lesestoff. Beides empfiehlt sich neben der | |
hervorragenden Ausstattung der Lektüre. Allerdings muss man Zeit | |
aufbringen, sich einen ruhigen Leseplatz suchen, dann vielleicht noch kurz | |
die Krawatte richten, wie Walter Benjamin aus Anlass einer Buchwürdigung | |
einmal angemerkt hat, und sich in diesen großformatigen Band vertiefen, der | |
nach außen hin einer Haus- oder Familienbibel gleicht. Wenn man dann nach | |
vierzehn Tagen wieder den Kopf hebt, sieht die Welt plötzlich anders aus. | |
Nicht nur diejenige der Kunst, denn Michelangelo war nicht nur Künstler, | |
sondern auch Diplomat und engagierter Zeitgenosse, der mit seinem Werk zur | |
Veränderung, sprich Korrektur der geläufigen Anschauung der Welt beitragen | |
und diese von bis dato gültigen ästhetischen Normen befreien wollte. | |
In der Michelangelostraße sammelt unterdessen ein Verein zur Verbesserung | |
der Lebensqualität Unterschriften für eine „behutsame“ statt der vom Senat | |
geplanten „immensen“ baulichen Verdichtung. Man könnte sich dort, um das | |
Schlimmste zu verhindern, auf den mächtigen Namenspatron und dessen hohe | |
Ansprüche an die Baukunst berufen. Ähnlich war bereits Andreas Schlüter | |
erfolgreich als Baumeister des Schlosses, jüngst als Humboldt Forum wieder | |
auferstanden, das er in Anlehnung an einen der römischen Staatsbauten | |
Michelangelos entwarf. | |
4 Sep 2021 | |
## AUTOREN | |
Michael Diers | |
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