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# taz.de -- Der Zufall ist rund
> Trotz Videoschiedsrichter und allen möglichen Instrumenten der
> Objektivierung: Fußball bleibt immer wieder ein Spiel, das auf Glück und
> dem Unberechenbaren beruht. Bloß gut so!
Bild: Fast wäre es schiefgegangen, aber nur fast: Wolfsburgs Maxence Lacroix �…
Von Dietrich Schulze-Marmeling
An diesem Wochenende geht die Bundesliga in ihre 59. Spielzeit. Nach 34
Spieltagen werden zwei bis drei Vereine absteigen. Ein Klub wird sich als
Meister feiern, fünf weitere dürfen sich über eine Platzierung freuen, die
ihnen einen Platz am großen oder am kleinen europäischen Fleischtopf
sichert. Und mindestens ein Drittel der Vereine wird sein Saisonziel
verfehlen.
Am Ende der Saison sind sich aber viele in einer Hinsicht einig: „Die
Tabelle lügt nicht.“ Stimmt das? Oder ist dies mehr eine Schutzbehauptung?
War der 1. FC Köln in der Saison 2016/17 tatsächlich das fünftbeste Team
der Liga? Die Domstädter hatten nur zwölf ihrer 34 Spiele gewonnen und
beendeten die Spielzeit punktgleich mit dem Tabellensechsten Hertha BSC.
Und war der Viertplatzierte VfL Wolfsburg in der Saison 2020/21 wirklich um
einen Punkt besser als Eintracht Frankfurt?
Im Fußball ist vieles Glück und Zufall. Trotzdem neigen wir dazu, ein Spiel
allein von seinem Ergebnis her zu bewerten. Aber das Ergebnis manipuliert
unsere Sicht auf die 90 Minuten plus Nachspielzeit. Mannschaft A spielt
Mannschaft B an die Wand, verzeichnet ein Chancenplus von 8:1, führt aber
nach 88 Minuten lediglich mit 1:0. Der Spielbericht ist geschrieben: „Ein
ganz starker Auftritt! Einziges Manko: die Chancenverwertung.“ Dann begeht
ein Innenverteidiger von Mannschaft A bei einer gegnerischen Flanke ein
Handspiel. Der Schiedsrichter entscheidet regelkonform auf Strafstoß.
Mannschaft B lässt sich die Chance zum Ausgleich nicht entgehen. Kurz
darauf erfolgt der Abpfiff. Unser Spielbericht landet nun im Papierkorb.
Bis zur 88. Minute war es doch nicht so gut, wie wir zu diesem Zeitpunkt
behauptet haben. Der bis dahin gute Innenverteidiger sinkt in der Benotung
von 2,0 auf 4,5. Obwohl er die meisten seiner Zweikämpfe gewann und 85
Prozent seiner Pässe ankamen.
Der 7:1-Sieg über Brasilien bei der WM 2014 zählt zu den größten Spielen
der deutschen Nationalelf. Die ersten Minuten gehörten allerdings der
Seleção. Und niemand kann sagen, wie die Partie gelaufen wäre, hätten die
Brasilianer in dieser Phase getroffen. Als Thomas Müller nach elf Minuten
das 1:0 erzielte, war im Liveticker des kicker zu lesen: „Das hat sich
nicht unbedingt abgezeichnet.“ Nach 24 Minuten war die Partie gelaufen –
drei Chancen, drei Tore. Das 7:1 hatte zur Folge, dass der deutsche
WM-Triumph überhöht wurde. Das Turnier wurde auf dieses eine Spiel
reduziert. Deutschland wurde viermal Weltmeister, hätte aber vom
Spielverlauf her jedes der Endspiele verlieren können. Dies gilt vor allem
für 1954 und 1974.
Am vergangenen Wochenende empfing der Viertligist Preußen Münster in der
ersten Runde des DFB-Pokals den Champions-League-Teilnehmer VfL
Wolfsburg. Bis kurz vor Schluss führte der Underdog mit 1:0. In welcher
anderen Sportart gibt es so etwas? Dass viertklassige Sportler erstklassige
an den Rand einer Niederlage drängen?
In der 90. Minute gelang den „Wölfen“ der Ausgleich. Für die Preußen
bitter, aber von den Spielanteilen und Chancen her war das 1:1 verdient.
Die Preußen spielten groß auf, aber im Umgang mit dem Ball erkannte man
schon einen Klassenunterschied. Auch in puncto Tempo und Athletik waren die
Akteure des Erstligisten erkennbar besser. In der Verlängerung waren es
trotzdem zunächst die Preußen, die eine fast hundertprozentige Chance zur
erneuten Führung ausließen. Am Ende gewann Wolfsburg gegen einen zusehends
müder wirkenden Gegner mit 3:1. Der Sieg des VfL ging in Ordnung, denn die
Gäste verbuchten in sämtlichen Bereichen die besseren Resultate.
Und wenn den Preußen das 2:1 gelungen wäre und die „Wölfe“ ihre
anschließenden Großchancen versemmelt hätten? Dann hätten wir ebenfalls
gesagt: „Der Sieg geht in Ordnung!“ Mit dem kleinen Zusatz: „Okay, etwas
glücklich. Aber die Mannschaft hat sich für ihren starken Auftritt
belohnt.“ Wir leben also in einem Widerspruch und neigen dazu, uns die
Dinge zurechtzubiegen. Viele Siege sind im Raum zwischen verdient und
unverdient zu verorten. Nur ziehen wir daraus keine Konsequenzen. Wenn eine
Mannschaft das Spiel über weite Strecken dominiert, aber in den letzten
Minuten noch den Sieg aus der Hand gibt und mit 1:2 verliert, dürfen wir
eigentlich nicht „Trainer raus!“ rufen. Oder „Sportdirektor raus!“ Wir …
dies aber. Gewinnt die schlechtere und in vielen Bereichen unterlegene
Mannschaft, ist dies für uns ein Beleg für die Faszination des Fußballs.
Dass das Ergebnis nicht immer korrekt abbildet, was auf dem Platz geschehen
ist, dokumentiert auch die Diskussion um den Videobeweis beziehungsweise
VAR. Macht er das Spiel gerechter? Oder ist das Gegenteil der Fall? Ein Tor
wird vom Kölner Keller wegen einer Abseitsstellung aberkannt. An der
Entscheidung gibt es nichts zu deuteln. Aber der betroffene Trainer sieht
seine Mannschaft trotzdem ungerecht behandelt und fordert die Abschaffung
des VAR. Aus seiner Sicht verständlich, denn sein Team hätte vom
Spielverlauf her den Sieg, zumindest ein Unentschieden verdient. Der
Trainer beklagt also die Objektivierung des Spiels als ungerecht. Auch
viele Fans wünschen sich eine geringere Objektivierung des Spiels und
fordern freie Bahn für falsche Entscheidungen. Auch wenn sie dies nicht so
formulieren.
Natürlich sind uns die Ungerechtigkeiten, Zufälle und die Rolle des Glücks
bewusst. Doch geben wir dies nur ungern zu. Wir möchten den Diskurs über
das Spiel kontrollieren. Wir möchten nach einem Spiel klar und deutlich
erklären können, warum Team A gewonnen und Team B verloren hat. Damit die
ganze Geschichte trotzdem gerecht bleibt und die Tabelle nicht lügt,
flüchten wir in die nächste Floskel: „Über die gesamte Saison betrachtet
gleicht sich das aus!“ Stimmt das?
In der Bundesligasaison 2014/15 wurde Jürgen Klopp mit Borussia Dortmund
nur Siebter. Die amerikanischen Besitzer des FC Liverpool ließen sich vom
tabellarisch schlechten Abschneiden nicht irritieren. Die Fenway Sports
Group (FSG) hatte in Anfield eine Abteilung Analyse aufgebaut, nach dem
Vorbild ihres Baseballteams Red Sox. Diese gelangte zu der Erkenntnis, dass
der Deutsche ein Trainer sei, der mit seinen Kadern ständig die Erwartungen
übertreffen würde. Klopp würde Spieler und Mannschaften besser machen. Und
seine letzte Saison in Dortmund?
Gemessen an Torchancen hätte der BVB eigentlich Zweiter werden müssen. Ian
Graham, „Forschungsdirektor“ beim FC Liverpool, präsentierte Klopp eine
Analyse der Begegnung BVB gegen Mainz 05, die die Mainzer mit 2:0 gewonnen
hatten. Eigentlich hätte der BVB das Stadion als Sieger verlassen müssen,
weil in allen Bereichen dem Gegner klar überlegen – abgesehen von den
erzielten Toren (der BVB verschoss in diesem Spiel einen Strafstoß). Klopp
habe einfach eines der unglücklichsten Teams der jüngeren Fußballgeschichte
trainiert.
Wir leben in einer Zeit, in der der Fußball für viele langweilig ist, wenn
nicht ständig Köpfe rollen und das Personal gewechselt wird. Wir richten
über Sportdirektoren und Trainer allein auf der Basis von Spielausgängen.
Jonas Boldt, Sportchef des Hamburger SV, erzählte im Gespräch mit dem
Magazin 11 Freunde: „Mein Eindruck ist, dass früher mehr darauf geschaut
wurde, wer was gut gemacht hat, etwas entwickelt und als Vorbild dienen
kann. Inzwischen geht es zunehmend darum, wer der Schuldige ist. (…) Dass
es keine Garantie auf Erfolg gibt, akzeptierten die Menschen heute immer
weniger.“ Befeuert wird diese Entwicklung von einigen Medien
beziehungsweise dem sogenannten Klick-Journalismus, den das nachhaltige
Arbeiten von Klubs nicht interessiert. Ein SC Freiburg, wo man nach einem
Abstieg nicht gleich in Hektik verfällt und das komplette System infrage
stellt, ist für diese Art von Journalismus langweilig.
Wie schnelllebig die Welt geworden ist, auch und gerade unsere Urteile
betreffend, dokumentierte zuletzt das Beispiel Werder Bremen. Der Klub galt
viele Jahre als ein Hort der Ruhe. Ende Februar 2020 schrieb die DeichStube
über Frank Baumann, der Sportchef habe „ziemlich viel dafür getan, dass
Werder Bremen auf der nationalen Fußball-Bühne wieder ins Rampenlicht rückt
und verblasster Ruhm aufpoliert wird“. Baumann habe „auf dem Spielermarkt
gut gemanagt“. Er habe dem Klub, den Fans, der ganzen Werder-Region „wieder
Fantasie und eine Perspektive geschenkt. Weg vom Abstiegskandidaten, hin
zum Europapokal-Anwärter.“
Im Mai 2021 war Frank Baumann für einige der Hauptverantwortliche für den
Abstieg des Traditionsklubs. Was war geschehen? Baumann musste entscheiden,
„ob wir sportlich ins Risiko gehen, weil wir wirtschaftlich keines mehr
eingehen konnten und wollten“. Baumann hatte also zwischen einem
sportlichen und einem finanziellen Risiko abzuwägen. Baumann entschied sich
fürs sportliche Risiko. Das klingt nach Vernunft, wie sie im Kontext der
Pandemie von den Profiklubs gefordert wurde. Aber so eine Entscheidung
„wird einem nicht gedankt, wenn die sportlichen Ziele verfehlt werden“
(Baumann).
Wenn die Resultate von Spielen in einem nicht unerheblichen Maße auf Glück
und Zufall beruhen; wenn es in Ordnung ist, dass die schlechtere Mannschaft
gewinnt; wenn auch regelwidrige Tore zum Spiel gehören und der VAR hier nur
stört – ist dann nicht manchmal eine etwas differenziertere Sichtweise
angesagt, anstatt stets die allerschärfsten Konsequenzen zu fordern, wenn’s
ergebnistechnisch nicht läuft?
„Fußball ist ein Ergebnissport“, wird man nun antworten. Das ist auch nur
eine weitere Floskel, die nicht dazu geeignet ist, der Komplexität dieses
Sports gerecht zu werden. Aber sie befreit uns davon, ein bisschen
nachzudenken.
14 Aug 2021
## AUTOREN
Dietrich Schulze-Marmeling
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