# taz.de -- das portrait: Der Krebs und die Ruderinnen | |
Daniela Schultze hatte ihren Kolleginnen gerade noch mit einem Zuruf für | |
die finalen Meter motiviert, als das Unglück über sie hereinbrach. Der | |
deutsche Doppelvierer der Frauen lag hinter den uneinholbaren Chinesinnen | |
sicher auf Platz zwei. Franziska Kampmann räumte später ein, dass in ihrem | |
Kopf bereits Bilder von der Silbermedaille auftauchten. Ein paar saubere | |
Ruderschläge fehlten, um jahrelange Arbeit mit einem Edelmetall bei den | |
Olympischen Spielen zu belohnen. „Daniela hat gesagt: Auf, noch 200 Meter | |
Mädels“, berichtete Kampmann von den Momenten vor dem Augenblick, als die | |
Träume zerplatzten. | |
Schultze, 30 Jahre alt, die routinierteste Fahrerin im deutschen Boot, war | |
ein Missgeschick passiert, das alle Ruderer kennen. Sie hatte einen Krebs | |
gefangen, wie es in der Rudersprache heißt. Schultze war mit dem Ruderblatt | |
beim Anrollen im Wasser hängengeblieben. So wird das Zurücksetzen genannt, | |
ehe das Ruderblatt erneut ins Wasser eingeführt wird, um beim Zurückziehen | |
vorwärtszukommen. Die vier Frauen gerieten aus dem Gleichgewicht, das Tempo | |
ging verloren und die Konkurrenz zog kurz vor dem Zielstrich vorbei. „Es | |
war das beste Rennen der Saison, aber dann haben wir den Krebs gefangen, | |
danach war es erledigt“, sagte Schlagfrau Frieda Hämmerling. Aus der | |
Silbermedaille wurde innerhalb weniger Sekunden Rang fünf. | |
Auf dem Bootssteg spielten sich kurz danach herzzerreißende Szenen ab. | |
Betreuer und Teamkollegen waren zu den Deutschen geeilt und leisteten | |
Beistand. „Ich bin in solchen Momenten erst mal ruhig“, berichtete | |
Kampmann, die sich wie die Betreuer liebevoll um Schultze kümmerte. | |
Hämmerling weinte hemmungslos, lag zusammengekauert auf dem Bootssteg. Die | |
24-Jährige transportierte die Verzweiflung am klarsten nach außen. Carlotta | |
Nwajide, die vierte Fahrerin, blieb zunächst wie versteinert im Boot | |
sitzen. Die Bilder sprachen für sich. | |
„Wir können es jetzt nicht mehr ändern“, sagte Kampmann. Sie wollte sich | |
nach der Rückkehr ins olympische Dorf zunächst einmal ins eigene Zimmer | |
verkriechen, um für sich ganz allein einen Weg zu finden, mit der | |
Enttäuschung umzugehen. Daniela Schultze suchte sofort die Ruhe. Die | |
30-Jährige, die schon 2012 bei den Olympischen Spielen in London dabei war | |
und in Tokio ihre erste Medaille gewinnen wollte, äußerte sich nicht. Der | |
Ärger und die Wut auf sich selbst waren am Tag des Dramas noch nicht | |
kanalisiert. „Man muss sich jetzt vielleicht ein bisschen drauf besinnen, | |
dass der Sport nicht das wichtigste ist“, sagte Kampmann. Sie wirkte in dem | |
Moment aber (noch) nicht so, als wenn sie davon überzeugt wäre. Michael | |
Wilkening | |
29 Jul 2021 | |
## AUTOREN | |
Michael Wilkening | |
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