Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- heute in hamburg: „Antisemitismus knüpft an alte Bilder an“
Interview: Pascal Luh
taz: Herr Bönig, wie hängen Kapitalismus und Antisemitismus zusammen?
Jürgen Bönig: Der Hass gegen Juden hat sich von der mittelalterlichen
Gesellschaft in die Moderne am Anfang des 19. Jahrhunderts transformiert.
Die Gesellschaft in den deutschen Staaten sahen sich plötzlich mit den aus
England kommenden Waren konfrontiert, die dauernd billiger werden konnten,
weil sie maschinell-industriell gefertigt wurden. Juden vermittelten viele
dieser Waren, die über Hamburg auf den Kontinent kamen, weil sie von
zünftiger Produktion ausgeschlossen waren. Juden gehörten zu denjenigen,
die die neuen Waren der kapitalistischen Produktionsweise in die alte
Gesellschaft brachten und sie unter Druck setzten.
Weil sie gar keine andere Wahl hatten.
Ja, das waren die wenigen Erwerbsmöglichkeiten, die ihnen offen standen.
Natürlich haben sie diese Möglichkeit wahrgenommen und es darin zu einem
gewissen Geschick gebracht. Das war den Zünften, die die Beschränkungen
1819 erneut durchgesetzt hatten, auch wieder nicht recht. Für die meisten
war es unerklärlich, wie die englischen Industriewaren ununterbrochen
billiger werden konnten. Deshalb haben sie die Juden für die Schuldigen
erklärt, die diese Waren heranschafften und ihre ständische Zukunft zu
zerstören drohten.
Sie gehen auch auf Karl Marx ein, welche Rolle spielt seine Theorie?
Marx schrieb 1843/44: Erst eine Gesellschaft, die das Profitmotiv nicht
mehr als Treibendes für die Produktion hat, wird die Eigenschaften, die den
Juden zugeschrieben werden, beseitigen. Es ist ja ein soziales Motiv: Ich
habe keine Arbeit mehr, weil die anderen billiger produzieren. Darauf
folgte nicht die Antwort, die Marx vorschlug: „Lass uns die
Produktionsmittelbesitzer enteignen“, sondern: „Lass uns gegen die Juden
vorgehen“.
Ist der Kampf gegen Kapitalismus immer auch ein Kampf gegen Antisemitismus?
Nein, umgekehrt. Die Zünfte nahmen den Antisemitismus wieder auf, weil sie
mit dem Kapitalismus nicht fertig wurden. Die Analyse von Marx sagt, dass
nicht der Kapitalismus per se schlecht ist, sondern dass es eine
zukunftsfähige, die Produktionsmittel weiterentwickelnde Wirtschaftsweise
ist, die aber Organisation und gesellschaftliche Steuerung braucht, damit
alle davon etwas haben.
Welche Parallelen gibt es zwischen historischem und aktuellem
Antisemitismus?
Das Motiv, jemanden für die eigenen ökonomischen Schwierigkeiten
verantwortlich zu machen, knüpft an alte Bilder an. Der in die Welt
gesetzte Antisemitismus funktioniert dann aber selbstständig weiter. In
neuen Konflikten mit neuen Akteuren radikalisiert sich das unter Verwendung
alter Motive aus dem kirchlichen Judenhass.
Stadtspaziergang „Heine, Marx und der Kampf gegen den Antisemitismus in
Hamburg“: 18 Uhr, 5€, Anmeldung unter https://t1p.de/uuaa
4 Aug 2021
## AUTOREN
Pascal Luh
## ARTIKEL ZUM THEMA
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.