# taz.de -- „Wir beschreiben auch die Brutalität des Angriffs“ | |
> Michael Werner-Boelz (Grüne), Leiter des Bezirksamtes Nord, über den | |
> Gedenkstein für Mehmet Kaymakçı, der heute enthüllt wird. Auf den Tag | |
> genau vor 35 Jahren wurde der junge Mann von Rechtsextremen totgeschlagen | |
Bild: Dem Vergessen entrissen | |
Interview Andreas Speit | |
Der Betonklotz wog 94 Kilo. Am 24. Juli 1985 ermordeten drei Rechtsextreme | |
Mehmet Kaymakçı in Langenhorn mit diesem Klotz. In der Eckkneipe „Bei | |
Ronnie“ hatten die Täter und Kaymakçı zuvor über „Ausländerpolitik“ | |
gestritten. Auf dem Nachhauseweg folgten die Rechten dem 29-Jährigen, | |
griffen ihn auf der Hohen Liedt an, schlugen und traten auf ihn ein, bis er | |
bewusstlos wurde. Sie zogen ihn hinter ein Gebüsch am Rande des | |
Kiwittsmoors und versuchten, ihn zu erwürgen. Als das misslang, schleppten | |
sie den Betonklotz herbei und zertrümmerten Kaymakçı den Schädel. „Wir | |
wollten den Türken fertig machen“, sagte einer der Täter vor Gericht. Heute | |
36 Jahre nach der Tat wird ein Gedenkstein an dem Tatort gelegt. | |
taz: Herr Werner-Boelz, Sie enthüllen heute einen Gedenkstein für Mehmet | |
Kaymakçı. Warum ist die Inschrift so lang? | |
Michael Werner-Boelz: Sie ist in drei Sprachen verfasst: Türkisch, Englisch | |
und Deutsch. Wir möchten nicht alleine an Mehmet Kaymakçı erinnern –wir | |
wollen den Mord auch politisch einordnen. Auf der Tafel steht, dass er ein | |
Opfer rassistisch motivierten Angriffs wurde. Wir beschreiben auch die | |
Brutalität des Angriffs. Und wir schreiben, dass dieser rassistische Mord | |
lange vergessen wurde. Im selben Jahr prügelten in Hamburg Rechtsextreme | |
Ramazan Avcı zu Tode. Er starb am 24. Dezember. Beide Morde lösten an der | |
Elbe ein Großdemonstration aus. 15.000 Menschen standen auf der Straße, die | |
politischen Parteien sprachen sich gegen Rechtsextremismus aus, Jugendliche | |
mit Migrationshintergrund organisierten sich, die Türkischen Gemeinde | |
Hamburg gründete sich. | |
Und dennoch geriet der Mord in Vergessenheit? | |
Ja, über Jahrzehnte gehörten Avcı und Kaymakçı zu den vergessenen Opfern | |
der rechtsextremen Gewalt in der Bundesrepublik. Der rechte Terror begann | |
nicht erst nach der Wiedervereinigung und er findet auch nicht alleine in | |
Ostdeutschland statt. Wir im Westen, wir in Hamburg verdrängen die | |
Geschichte und Gegenwart dieser alltäglichen Bedrohung. Die Opfer, so | |
bitter das klingt, hatten lange keine Lobby. Und in der Politik wurde kaum | |
auf sie gehört. | |
In den vergangenen Jahren haben Betroffene und migrantische Communities | |
kritisiert, dass nicht mit ihnen gemeinsam Wege des Erinnerns gesucht | |
würden. Gingen Sie auf diese Kritik ein? | |
Wir haben versucht, nicht über die Betroffenen rechter Gewalt hinweg zu | |
handeln, sondern mit ihnen. Ich hoffe, dass wir ihnen gerecht geworden | |
sind. 2019 brachte ich für die Grünen den interfraktionellen Antrag in der | |
Bezirksversammlung ein, der die Grundlage für den Gedenkort ist. Das | |
Bezirksamt hat eng mit den Familienangehörigen und der | |
Ramazan-Avcı-Initiative zusammengearbeitet. Die einzelnen Schritte wurden | |
stets rückgekoppelt. Erst durch die Recherche der Initiative konnten wir | |
Kontakt zu zwei Familienmitgliedern, die nicht in Deutschland leben, | |
knüpfen. Auch die Familie Arslan, die 1992 Opfer eines Brandanschlages in | |
Mölln wurden, war involviert. | |
Ist der Mord im Stadtteil ein Thema? | |
Bei aller Vorsicht, ich würde sagen: nein. Ich muss aber auch | |
selbstkritisch sagen, ich habe lange nichts von diesem rassistischen Mord | |
im Bezirk gewusst. Bei einer Strategiedebatte der Grünen gegen | |
Rechtsextremismus stieß ich erst auf diese Tat – durch Zeitungsartikel. | |
Selbst antirassistische Initiativen hatten diesen Mord nicht in Erinnerung. | |
Mit dem Gedenkstein wollen wir jetzt dem Opfer in der Öffentlichkeit einen | |
Namen geben und auf Taten aus rassistischen, antisemitischen und | |
antiislamischen Motiven hinweisen. Gedenken bedeutet vergegenwärtigen. | |
Im Verfahren gegen die Täter erkannte das Gericht den politischen Kontext | |
nicht an. Und heute? | |
Ihre Kollegen von der Süddeutschen Zeitung haben ja gerade zwölf Fälle | |
dargelegt, in denen das Recht sehr zu Gunsten der Täter ausgelegt wurde. | |
„Auf dem rechten Auge blind“ gilt heute also immer noch – und nicht nur in | |
der Justiz. Ich freue mich, dass wir heute im Beisein von Angehörigen den | |
Gedenkstein legen. | |
Ist es nicht auch beschämend, dass dieser Erinnerungsort erst nach 36 | |
Jahren realisiert wird? | |
36 Jahre sind auch ein Zeichen des Versagen der Politik und des Staates. | |
Ihre Partei hadert in der Bürgerschaft mit der Forderung nach einen | |
Parlamentarischen Untersuchungsausschuss zur Ermordung von Süleyman | |
Taşköprü durch den NSU. | |
Die Enttäuschung der Angehörigen kann ich nachvollziehen. Die Fraktion muss | |
entscheiden, ob so ein Ausschuss das adäquate parlamentarische Mittel in | |
der Koalition ist. | |
Gedenkveranstaltung: 15 Uhr Kiwittsmoor-Park, Hohe Liedt, zusammen mit den | |
Angehörigen Mehmet Kaymakçıs und weiteren Opfer rechter Gewalt | |
24 Jul 2021 | |
## AUTOREN | |
Andreas Speit | |
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