# taz.de -- Das Feuer neu entfachen | |
> 107 Filme aus mehr als 30 Ländern: Bereits zum 50. Mal zeigt das | |
> Nachwuchsfestival Sehsüchte in Potsdam Werke von Studierenden – und | |
> dokumentiert auch die eigene Geschichte | |
Bild: Um soziale Ungleichheit geht es in der ruandischen Produktion „Karani N… | |
Von Fabian Schroer | |
Die kleine Málna mit den großen Augen und den brav geflochtenen Zöpfen | |
steht verwirrt im Flur einer von Rotlicht erfüllten Hausparty im | |
kommunistischen Budapest der 1980er Jahre. Ihr arroganter junger Vater, ein | |
abgehalfterter Punkmusiker, hat die Achtjährige dort abgestellt, um im | |
Nebenzimmer mit seinen Freunden Drogen zu nehmen. Im Hintergrund spielt | |
leise eine von Chopins „Nocturnes“ gegen den Exzess an. | |
Was zunächst hart klingt, hat eine Menge Humor und Herz. Im ungarischen | |
Kurzfilm „Mióta velem jár / Since She’s with Me“ geht es um das Verzeih… | |
und um die Fehler der Eltern. Rozalia Szeleczkis Werk lebt von der dichten | |
Atmosphäre, der herausragenden schauspielerischen Leistung von Emma | |
Bercovici und Bence Tasnádi und wird beim 50. Jubiläum des | |
„Sehsüchte“-Festivals außer Konkurrenz in der Kategorie „Showcase“ ge… | |
Seit dem vergangenen Mittwoch laufen die Festspiele an der Filmuniversität | |
Babelsberg Konrad Wolf in Potsdam. Beim größten internationalen | |
Studierendenfilmfesitval Europas haben es insgesamt 107 Filme aus mehr als | |
30 Ländern in die Auswahl geschafft. Vor allem Kurzfilme, aber auch einige | |
Werke in Spielfilmlänge, darunter viele Dokumentar- und Animationsfilme, | |
werden parallel online und an sechs verschiedenen Potsdamer Spielstätten | |
vorgestellt. Unter dem Motto „Ignite“, einer Anspielung auf das langjährige | |
Logo des Festivals sowie den Funken der Idee, die jedem Film vorausgeht, | |
soll nach zwei Jahren coronabedingter Sparflamme, das Feuer nun wieder neu | |
entfacht werden. | |
Das diesjährige Programm will politisch und divers sein – und schafft das | |
auch ganz gut. Neben queeren Lebenswelten wie im französischen Kurzfilm | |
„Dustin“ von Naïla Guiguet, der einfühlsam einen Abend aus dem Leben einer | |
jungen Trans*Person nacherzählt, kommen auch migrantische Perspektiven, | |
Armut und Ausgrenzung nicht zu kurz. Bei der 88-minütigen ruandischen | |
Produktion „Karani Ngufu“ liegt der Fokus auf sozialer Ungleichheit | |
zwischen Gutverdienenden und ihren Hausangestellten. Der Dokumentarfilm „A | |
Letter from Raqqa“ erzählt vom Verlust des Alltäglichen im kriegszerstörten | |
Syrien und „The battle for our voices“ vom Kampf polnischer Aktivistinnen | |
gegen das Abtreibungsverbot. | |
Was programmatisch bereits umgesetzt wird, wurde strukturell allerdings als | |
Problem angeprangert. Anfang Juli veröffentlichte die Festivalleitung eine | |
Stellungnahme zur vorher laut gewordenen Kritik an der mangelnden | |
Diversität unter den Jurymitgliedern. Man räumte Fehler ein und | |
entschuldigte sich dafür, dass durch die Entscheidung, besonders „alte | |
Meister:innen“ und große Persönlichkeiten der deutschen Filmlandschaft | |
einzuladen, auch ein System reproduziert werde, „welches PoCs | |
gesamtgesellschaftliche Sichtbarkeit strukturell verwehrt“. | |
Zum runden Geburtstag der Studierendenfestspiele hat das sogenannte | |
History-Ressort Pressearchive, Uni-Bibliothek und Abstellkammern | |
durchforstet und aus dem umfänglichen Material eine Chronik der vergangenen | |
fünf Jahrzehnte erstellt. Die erstmals 1972 veranstalteten | |
„FDJ-Studententagen“ der Hochschule für Film und Fernsehen waren noch als | |
kleine hochschulinterne Werkschau angelegt. Mit dem Wunsch nach mehr | |
Öffentlichkeit erfolgte in den 1980ern die zunehmende Internationalisierung | |
mit Gästen aus Moskau, Prag oder Sofia und die Einführung des ersten | |
Preises, dem „Goldenen Friedrich“. | |
Nach einigen Krisenjahren in der Nachwendezeit, die schön mit Videomaterial | |
dokumentiert wurden, gab es das Festival dann 1995 zum ersten Mal unter dem | |
derzeitigen Titel, damals noch in der Schreibweise „Seh-Süchte“. Späteste… | |
seit 2002, als zum ersten Mal über 10.000 Besucher:innen gezählt | |
wurden, sind die nach wie vor ausschließlich von Studierenden organisierten | |
Filmtage zu einer etablierten Institution für den internationalen | |
Filmnachwuchs angewachsen. | |
Besondere Aufmerksamkeit unter den verschiedenen Wettbewerbssektionen | |
verdient auch die Animationssektion. Der Kurzfilm „Mmm… Cat“ von Yongxin | |
Wang, die selbst an der Filmuni studiert, spielt mit den Rollen von Mensch | |
und Haustier in träumerisch-surrealen Studio-Ghibli-Ästhetik. „Megamall“ | |
von Aline Schoch zeigt verschlungene Rollentreppenwelten des Konsums und | |
des Nichtkonsums, unterlegt mit klaustrophobischem Kaufhaus-Sound und fast | |
nicht hörbaren Cloud-Rap-Einlagen. Der fantastisch-dystopische Kurzfilm | |
„Pilar“ überzeugt durch handgemalte Acrylfarbenanimation. | |
Aus vielen der Werke spricht eine Experimentierfreude, die man in der | |
medienförderungsfinanzierten deutschen Filmlandschaft häufig vermisst. Bis | |
Sonntag besteht die Möglichkeit, sich selbst davon zu überzeugen, entweder | |
vor Ort, zu Hause auf dem Sofa oder auch beim Radler am See. Heute Abend | |
läuft zum Beispiel der Featurefilm „Nico“ von Eline Gehring im Thalia-Kino, | |
der anhand des Schicksals der persischstämmigen Protagonistin eine | |
Geschichte von Wut und rechter Gewalt in Berlin erzählt. | |
Infos und Programm unter: sehsuechte.de/ | |
24 Jul 2021 | |
## AUTOREN | |
Fabian Schroer | |
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