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# taz.de -- taz🐾thema: Ein letzter Rettungsanker
> Fast täglich erreichen uns Bilder von Menschen, die auf der Flucht über
> das Mittelmeer in ihren überfüllten Booten in Seenot geraten.Die
> Initiative Alarmphone unterstützt die Geflüchteten mit einer
> Notfalltelefonnummer und versucht, ihre Rettung sicherzustellen
Von Cordula Rode
No rescue, but alarm – seit sieben Jahren hilft die Initiative
[1][Alarmphone] flüchtenden Menschen, die auf dem Mittelmeer in Seenot
geraten. Im Unterschied zu zivilen Hilfsorganisationen wie Sea-Watch oder
Sea-Eye, die eigene Schiffe und Helfer*innen vor Ort einsetzen, ist es
das Ziel des Notruftelefons, den in Lebensgefahr geratenen Menschen die
Sicherheit zu geben, dass ihr Notruf an die Küstenwache zusätzlich von
einer weiteren Stelle wahrgenommen und weitergeleitet wird. Alarmphone gibt
den Flüchtenden eine zweite Stimme.
Die Initiative ist in den drei Mittelmeerbereichen mit den am häufigsten
genutzten Fluchtwegen aktiv: in der Ägäis (zwischen Griechenland und der
Türkei), im zentralen Mittelmeer (zwischen Libyen/Tunesien und Italien) und
im westlichen Mittelmeer (zwischen Marokko und Spanien). Ehrenamtliche
Aktivist*innen in zahlreichen Städten in Nordafrika und Europa nehmen
rund um die Uhr eingehende Notrufe an.
Die überlebenswichtigen Kernfragen können so schnell geklärt werden: Wie
viele Menschen befinden sich an Bord des in Seenot geratenen Schiffes, in
welchem Zustand ist das Schiff und wie sind seine GPS-Koordinaten? Die
Helfer*innen leiten die erhaltenen Informationen an die Küstenwache der
entsprechenden Region weiter, beobachten deren Reaktion und dokumentieren
das gesamte Geschehen vom Notruf bis zur Rettung. Sie sorgen dafür, dass
der Kontakt nicht abbricht, indem sie im Bedarfsfall die Handys der
Hilfesuchenden mit neuem Guthaben aufladen. Verzögert sich die Reaktion der
zuständigen Behörden, wird versucht, durch öffentlichen Druck die Rettung
zu beschleunigen. Darüber hinaus werden zivile Frachtschiffe, Tanker und
andere Schiffe, die in der Nähe sind, kontaktiert und um Unterstützung
gebeten.
Verbreitet wird die Notrufnummer über direkte Kontakte in den Communitys
der Migrant*innen und Flüchtlinge in den wichtigen Transitländern
Nordafrikas und in der Türkei. Flyer und Videos informieren über die
Risiken der Überfahrt über das Mittelmeer, geben Hinweise, wie sich
Gefahren verringern lassen, und weisen auf die Notfallnummer hin.
Fast 200 Menschen arbeiten für das transnationale, spendenfinanzierte
Netzwerk mit Gruppen in vielen Ländern nördlich und südlich des
Mittelmeers. Die Aktivist*innen werden vor ihrem ersten Einsatz
umfassend geschult. Grundlage dafür sind Handbücher mit Richtlinien und
Handlungsanweisungen, die sich auf die Erfahrungen von Menschen stützen,
die in den letzten Jahren selbst als Flüchtende das Mittelmeer überquert
haben. Der Anwalt Muhammad al-Kashef gehört seit fünf Jahren zum Berliner
Team des Notruftelefons und weiß aus eigener Erfahrung, wie belastend die
Einsätze sein können: „Manchmal fühlt man sich in der konkreten Situation
einfach nur hilflos. Und es ist schwer, nicht die Hoffnung auf Besserung zu
verlieren.“
Als im April dieses Jahres 130 Menschen vor der Küste Libyens mit ihrem
Boot kenterten und ertranken, war Aktivistin Lara Dade vom Alarmphone im
Dienst und erlebte die Ohnmacht am eigenen Leib. Im [2][taz-Interview]
berichtete sie, dass keine der alarmierten Küstenwachen von Italien, Libyen
und Malta den Menschen in Lebensgefahr zu Hilfe kam. Auch Frontex, die
umstrittene Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache, blieb
untätig, obwohl sie zeitweilig mit einem Flugzeug über dem Schlauchboot
kreiste. Dades bitteres Fazit: „Das war kein Bootsunglück – das war ein
bewusstes Sterbenlassen.“
Das restriktive europäische Grenzregime, das durch zunehmende
Militarisierung der Grenzen die flüchtenden Menschen auf immer
gefährlichere Routen treibt, und der gleichzeitige Unwille der europäischen
Staaten, bei der Rettung von in Seenot geratenen Menschen konsequent zu
handeln sowie die gängige Praxis, die Geflüchteten gewaltsam und illegal in
ihre Heimatländer zurückzutreiben (die sogenannten Pushbacks) sind aus
Sicht des Netzwerks die Ursachen für die vielen vermeidbaren Todesfälle im
Mittelmeer.
Eine schnelle Lösung sieht Muhammad al-Kashef nicht: „Hier ist die Politik
gefragt. Man muss nicht sofort alle Grenzen öffnen – aber es muss ein
sicherer Weg für die Menschen gefunden werden, die in höchster Not und
unter Einsatz ihres Lebens aus den für sie unerträglichen Lebensbedingungen
in ihren Heimatländern flüchten.“ Und genau hier sieht auch Alarmphone
seine Aufgabe: „Unser Netzwerk ist so viel mehr als nur ein Notruftelefon“,
sagt al-Kashef. „Wir wirken daran mit, die europäische Grenzpolitik in
Frage zu stellen und zu verändern und die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit
auf die tödlichen Auswirkungen dieser Politik zu richten.“
Am 25. und 26. Juni wird die lange vorbereitete Konferenz [3][„From the sea
to the citys“], an der Alarmphone maßgeblichen Anteil hat, online und vor
Ort in Palermo, Sizilien, stattfinden, Muhammad al-Kashef gehört zu den
geladenen Rednern. Denn während die EU eine Politik der Abschreckung
verfolgt, finden sich immer mehr Gemeinden und Städte in Europa, die bereit
sind, Verantwortung für den Schutz von Menschenleben zu übernehmen, indem
sie Geflüchtete aufnehmen und so den europäischen Gedanken neu beleben.
Ziel der von den Bürgermeistern Potsdams und Palermos initiierten Konferenz
ist die Schaffung eines solidarischen europäischen Netzwerks von Städten,
Gemeinden und der Zivilgesellschaft und einer Politik, die beim Thema
Migration endlich die Menschenrechte in den Mittelpunkt stellt.
19 Jun 2021
## LINKS
[1] https://alarmphone.org/de/
[2] /Aktivistin-ueber-Tote-im-Mittelmeer/!5768995/
[3] https://fromseatocity.eu/
## AUTOREN
Cordula Rode
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