# taz.de -- nord🐾thema: Im Tandem durch die Lehre | |
> Etwa jede*r Vierte bricht seine*ihre Ausbildung wieder ab. Eine | |
> Initiative von Senior*innen will das verhindern und begleitet junge | |
> Menschen bis zu ihrer Abschlussprüfung | |
Bild: Noch einmal die Unterlagen durchgehen: Gabriele Schünemann hilft Arezoo … | |
Von Anina Pommerenke | |
Das letzte Treffen vor der Abschlussprüfung. Gabriele Schünemann zückt eine | |
grüne Mappe, in der sie Unterlagen fein säuberlich in Plastikfolien | |
abgeheftet hat. Gemeinsam mit ihrem Schützling Arezoo Tajik geht sie noch | |
einmal Schritt für Schritt den Ablauf der anstehenden Prüfungen durch. Die | |
21-jährige macht gerade ihre Ausbildung zur zahnmedizinischen | |
Fachangestellten. Sie hat sogar verkürzt und super Noten. | |
Doch ohne Gabriele Schünemann wäre sie nicht so weit gekommen, sagt Tajik: | |
„Das Hauptproblem war mein Berichtsheft. Ich wusste nicht, wie man das | |
ausfüllen muss.“ Doch für eine Unterstützung durch die Jugendberufsagentur | |
waren ihre Noten zu gut. Da erzählte ihr eine Freundin von der Initiative | |
„VerA“. | |
## 60 Tandems in Hamburg | |
Der Name steht für Verhinderung von Ausbildungsabbrüchen. Die in Bonn | |
ansässige Initiative gibt es seit 2008 und wird vom Bundesministerium für | |
Bildung und Forschung gefördert. Angesiedelt ist sie beim | |
Senior-Experten-Service, der unter anderem auch pensionierte Fach- und | |
Führungskräfte aus Deutschland in Entwicklungs- und Schwellenländer | |
vermittelt. Bei der Initiative „VerA“ können sich Senior*innen melden, | |
die jungen Menschen mit Schwierigkeiten in der Ausbildung helfen wollen. Es | |
gibt rund 80 Ableger in Deutschland. In Hamburg sind um die 100 | |
Senior*innen aktiv. Zurzeit gibt es 60 Tandems. | |
Die ersten Begegnungen von Tajik und Schünemann vor rund einem Jahr fanden | |
unter erschwerten Bedingungen statt. Wegen der Coronapandemie konnten sie | |
sich zunächst nur am Telefon miteinander austauschen, später folgten lange | |
Spaziergänge. Dass beide heute ein vertrautes Verhältnis zueinander haben, | |
ist nicht zu übersehen. Sie scherzen, plaudern über Privates, immer wieder | |
lächelt Tajik ihre Mentorin an. „Ohne sie hätte ich es nicht geschafft“, | |
ist sie überzeugt. | |
Die junge Auszubildende kam erst vor fünf Jahren aus Afghanistan nach | |
Deutschland. Für sie ist es essenziell, eine Ansprechpartnerin zu haben. | |
Gabriele Schünemann hat ihr nicht nur beigebracht, wie man jenes | |
Berichtsheft führt, mit dem sie die Arbeitsschritte in der Praxis | |
dokumentieren soll, auch bei jedem neuen Behördenschreiben griff Tajik zum | |
Telefon und wählte die Nummer ihrer Mentorin: „Allein das Gefühl, jemanden | |
an meiner Seite zu haben, der mir hilft, bringt viel. Seitdem ich Frau | |
Schünemann kenne, hat sich vieles bei mir verändert. Dadurch bin ich | |
sicherer und stärker geworden“. | |
Bevor ein Tandem die Arbeit aufnehme, gebe es ein Kennenlerntreffen, | |
erklärt Gabriele Schünemann. Für die studierte Lehrerin, die lange als | |
wissenschaftliche Mitarbeiterin in einem Forschungsunternehmen gearbeitet | |
hat, ist es bereits das zweite Engagement bei „VerA“. Beim ersten Treffen | |
klären beide Seiten ab, was sie sich durch die Betreuung erhoffen und | |
halten die Ergebnisse in einem Vertrag fest, wie die Rentnerin ausführt. So | |
sei von Anfang an klar, was das Ziel der Betreuung sei. Oft brauchen die | |
Auszubildenden keine Hilfe bei der Abschlussprüfung, sondern auf dem Weg | |
dahin. | |
In Deutschland wird etwa jede vierte Ausbildung nicht abgeschlossen. Viele | |
Verträge werden bereits im ersten Lehrjahr aufgelöst. Das geht aus dem | |
Datenreport 2020 des Bundesinstituts für Berufsbildung hervor. Die Gründe | |
mögen vielfältig sein: Manchmal passt der Job nicht, mal liegt es an den | |
Kolleg*innen, mal fehlt es an Unterstützung und Betreuungsangeboten. | |
Eine abgebrochene Ausbildung ist zwar nicht das Ende der Welt, doch es | |
bedeutet für Betrieb und die Auszubildenden einen Verlust von Zeit, Energie | |
und Ressourcen. Im schlimmsten Fall nehmen die jungen Menschen danach aus | |
Frust keinen neuen Ausbildungsweg auf. Laut einer Befragung jenes | |
Bundesinstituts gaben 14 Prozent der Abbrecher*innen an, danach zu | |
studieren, etwa die Hälfte wollte eine neue Lehre anfangen. Gerade die, die | |
danach unterm Radar verschwinden, wolle man mit „VerA“ erreichen, damit sie | |
nicht „in der sozialen Hängematte landen“, sagt Volker Hiebel, Kordinator | |
des Hamburger „VerA“-Ablegers. | |
Die meisten der zu betreuenden Auszubildenden seien nicht in Deutschland | |
geboren, sagt er. Es gäbe also gerade im Bereich Kultur und Sprache | |
Nachhilfebedarf. Auch Gabriele Schünemann erinnert sich daran, dass ihr | |
erster Schützling sich beispielsweise nichts unter dem Wort „Verklumpung“ | |
vorstellen konnte: „Für die sind manchmal Dinge schwierig, die für uns | |
selbstverständlich sind.“ | |
## Hilfe zur Selbsthilfe | |
„VerA“ erfordert viel Eigeninitiative der Senior*innen. Schünemann muss | |
sich inhaltlich auf jeden Azubi neu vorbereiten. Doch sie macht das mit | |
Leidenschaft: „Jeder Werktätige, der in den Ruhestand geht, nimmt ja | |
Wissen, Erfahrung und Kompetenzen mit. Die verschwinden irgendwann, werden | |
doch aber gebraucht.“ Was sie anbieten könne, sei Hilfe zu Selbsthilfe. | |
Lernen müssen die Auszubildenden dann allein. | |
Gerade vor dem Hintergrund des drohenden Fachkräftemangels rückt in der | |
Politik die Frage in den Fokus, wie man Ausbildungsabbrüche minimieren | |
kann. Die Pandemie hat die Situation noch verschärft. In Hamburg haben im | |
vergangenen Jahr 1.575 junge Menschen weniger eine Ausbildung begonnen als | |
im Vorjahr. Die Stadt hat deswegen ein Programm für Auszubildende in Hotels | |
und Gaststätten aufgelegt. In kurzen Praxiseinheiten können Azubis dort | |
verpasste Inhalte nachholen. | |
Das Angebot von „VerA“ ist für die Auszubildenden und die Betriebe | |
kostenlos. Damit das so bleibt, werden Senior*innen gesucht, die Lust | |
haben, sich ehrenamtlich zu engagieren. Gabriele Schünemann freut sich, | |
dass sie der Gesellschaft so etwas zurückgeben kann, und findet, dass beide | |
Seiten vom Tandem profitieren: „Es macht einfach wahnsinnig Spaß!“ | |
Näheres auf vera.ses-bonn.de | |
5 Jun 2021 | |
## AUTOREN | |
Anina Pommerenke | |
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