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# taz.de -- tazđŸŸthema: Kleinkunst fĂŒr sich selbst
> „Goethe liest ja auch keine Mickymaus-Hefte“: Der Schriftsteller und
> taz-Kolumnist Uli Hannemann hat sich mangels Alternativen dem
> Bingewatchen und Komalesen hingegeben und stellt Serien, BĂŒcher und
> Streams vor, die ihm den Lockdown versĂŒĂŸt haben
Bild: Superoriginell: die norwegische Serie „Beforeigners“
Von Uli Hannemann
Die Kulturorte sind alle dicht wie Schauspieler am Ende der Premierenfeier.
So bleibt uns KulturhÀschen in Pandemiezeiten meist nur StillbeschÀftigung.
Die eine oder andere Veranstaltung kann man zwar noch streamen, aber das
ist wie Saufen vor verschlossener Kneipe, allein, aus einer leeren Flasche.
Deshalb soll hier und heute das gute Buch gepriesen werden, genossen auf
dem guten Sofa zu einer guten Schnitte Brot mit guter Butter.
Doch beginnen wir mit dem Lieblingsbuch fĂŒr Buchstabenmuffel: der
Fernsehserie. Seit Beginn der Seuche habe ich so viele Serien gestreamt,
dass ich mich hier auf meine absoluten Highlights beschrÀnke. Da wÀre zum
einen „Killing Eve“ (Amazon und Starzplay): Drei tolle
Hauptprotagonistinnen aus drei Generationen und ein grimmig gutgelaunter
Parforceritt in bislang drei Staffeln mit teils cartoonesker BrutalitÀt
irgendwo im verminten Niemandsland zwischen Nordic Noir, Splatter und
Quentin Tarantino.
Saulustig ist auch die norwegische Wikingerparodie „Norsemen“ (Netflix; am
besten in der englischsprachigen Version mit norwegischem Akzent!), die
ihre eigenen TabubrĂŒche immer gleich selbst in einer fĂŒr das Jahr 790
bizarr modernen Weise metaverhandelt – bester Beweis dafĂŒr, dass man auch
daraus, was in Deutschland oft nur hilflos als „Zwang zur politischen
Korrektheit“ beheult wird, skurrilsten Humor ohne reaktionĂ€res Lamento
zaubern kann.
Gleich vier lange Staffeln hat mein Überraschungssieger in der Kategorie
„Ulis Coronaserien“, die genialisch bescheuerte Comedy „Crazy
Ex-Girlfriend“ (Netflix). Überraschung deshalb, weil die Machart durchaus
Sitcom und Musical streift – beides Genres, die ich gewöhnlich meide wie
der Teufel das Weihwasser. Goethe liest ja auch keine Mickymaus-Hefte.
Doch die ErklÀrung ist einfach: Die Hauptakteurin Rachel Bloom ist die
komischste Frau der Welt. Stopp, ich korrigiere – das grundlose Othering
wirkt hier sonst so, als hÀtte mal wieder nur das arglistige Fatum eines
opportunistischen Zeitgeists uns Grandseigneure der BrĂŒllkomik zugunsten
semitalentierter Gören undekoriert gelassen: Sie ist auf jeden Fall der
komischste Mensch (m/w/d) der Welt. Das haben mir die 62 Folgen dieser auch
feministischen, auch diversen, vor allem aber megawitzigen Serie mit dem
Schaumstoffhammer eingeprĂŒgelt: Blam!
Doch es geht auch ohne teure Streamingdienste. Mein Favorit im Angebot der
öffentlich-rechtlichen Mediatheken stammt ebenfalls aus Norwegen: die
superoriginelle Serie „Beforeigners“ (ARD; dort leider nur synchronisiert).
Eine weitere Empfehlung gilt der englischen Feelgood-Serie „Detectorists“
(Arte; OmU), herzerwÀrmend wie ein warmes Pint im Pub und niedlich wie ein
beim Bad in einer MĂŒslischĂŒssel am Bauch gekrabbeltes Igelbaby.
Wem das alles noch nicht reicht, die kann sich auch die kubikmetergroße
DVD-Box mit sĂ€mtlichen Staffeln von Edgar Reitz’ „Heimat“ von 1984
bestellen. Die Serie ist gut gealtert, gerade in ihrer postmodernen,
urlangsamen Carlos-Reygadas-ErzÀhlweise, womit man nun fast schon wieder
bei den echten BĂŒchern wĂ€re, denn Lesen ist tatsĂ€chlich etwas
anspruchsvoller. So kann man nicht mitten im Buch Bier aus der KĂŒche holen
oder aufs Klo bringen, wÀhrend sich das Buch von alleine weiterliest. Blöd.
Dennoch habe ich auch viel gelesen. Manches ging bei einem Auge rein, beim
anderen raus. Anderes blieb drinne. So kann ich mich aus der LamÀng
erinnern an Juan Moreno, Emilia Smechowski, Johannes Ehrmann (alle eher
Sachbuch), Ocean Vuong, Stefanie Sargnagel, Dirk Stermann, Anke Stelling,
Rafael Horzon, Paula Irmschler, Leo Tolstoi, David Niven, Ella Carina
Werner und Leif Randt: Bei euch bedanke ich mich, dass ihr meine TrÀnen der
Lockdownlangeweile getrocknet und mit der Brechstange eurer Worte meinen
amöbenhaften Horizont erweitert habt – ihr seid schnafte Herzchen!
Was Randts „Allegro Pastell“ betrifft, hoffe ich jedoch fĂŒr ihn und mich,
dass es sich bei seinen Charakteren, die seltsam steril wirken wie
Androiden in einer Versuchsanordnung, die das echte Leben nur so fakt, auch
wirklich um das von mir vermutete Stilmittel handelt.
Meine klare Nummer eins in BĂŒchern ist ohnehin „Circe“ von Madeline Miller.
Wie in „Crazy Ex-Girlfriend“ gibt es eine schrĂ€ge Heldin. Und auch hier bin
ich zwar zweifellos zu faul und zu doof, um zu beschreiben, worum es
ĂŒberhaupt geht, so plotwise, vor allem aber wĂŒrde jeder technokratische
ErklÀrungsansatz dem tieferen Grund meiner Begeisterung nicht gerecht; also
recherchiert halt im fÀhigeren Feuilleton oder lest besser gleich den
Roman. Wer möchte, mag in meiner Auswahl den halbgebildeten Hang zum
schlichten, aber niemals schnöden Wort erkennen. Und natĂŒrlich kann man
auch Livestreams gucken. StĂŒcke aus dem Maxim Gorki Theater zum Beispiel.
Oder eine Show des Berliner Comedian Fil. Man kann es aber auch bleiben
lassen, denn ohne Publikum wirkt dieser nach Rachel Bloom komischste Mensch
der Welt ungewohnt lost. So als hĂ€tten EntfĂŒhrer den „schauen Fil“ auf ei…
BĂŒhne gezwungen, um ein Erpresservideo zu drehen – da fehlt nur noch das
Schild um den Hals: „Seit 520 Tagen Gefangener des RKI.“
Dasselbe – und hier komme ich nun endlich zu mir – muss man erst recht ĂŒber
die Livestreams der Berliner LesebĂŒhnen sagen, denn das Format ist ohne den
Geruch von Bier und das Klirren der von ekstatisch schurrenden FĂŒĂŸen
umgestoßenen Flaschen eigentlich nicht lebensfĂ€hig. Wir ziehen die Sache
trotzdem durch wie der Volkssturm – die „Brauseboys“, die „ReformbĂŒhne…
& Welt“ sowie „LSD – Liebe statt Drogen“ –, eben weil wir bockige alte
KleinkĂŒnstler sind. Es hat schon etwas Wahnhaftes, wir machen das im Grunde
nur noch fĂŒr uns selbst. Manchmal verfolgen gerade mal acht Leute unseren
Livestream, und in Wahrheit sind es sogar nur sieben, weil ich auf meinem
Smartphone zur Kontrolle mitgucke. Doch das sage ich den Kollegen nicht,
damit sie nicht noch trauriger werden als ohnehin. The show must go on –
warum, weiß ich allerdings oft selbst nicht mehr.
22 May 2021
## AUTOREN
Uli Hannemann
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