# taz.de -- berlin viral: Im richtigen Viertel | |
Einen schnellen Impftermin? Den gibt’s im falschen Viertel, denn da | |
drängeln sich weniger Privilegierte. Auch Juli Zeh könnte dort noch etwas | |
lernen. Am Donnerstag war ich impfen. Bei einer Ärztin hier in meiner | |
Nachbarschaft. Astra natürlich, geradewegs vorbei an der | |
Priorisierungsschlange. Ein kleines bisschen verboten fühlte es sich schon | |
an, obwohl erlaubt. Was aber auch damit zu tun hat, dass ich meine Impfung | |
einem Vice-Artikel verdanke. Gut organisiert bin ich nämlich gemeinhin | |
nicht. Aber da es bei Vice-Autor Robert Hofmann gerade mal zwei Stunden | |
gedauert hat, um sich eine Restdosis zu besorgen, wollte ich es natürlich | |
auch probieren und schrieb alle Ärzt*innen in meiner Umgebung an. | |
Zwei Tage passierte nichts, und mit der offiziellen Aufhebung der | |
Priorisierung für Astra und den resultierenden Notstandsmeldungen der | |
Hausarztpraxen rechnete ich auch nicht mehr mit einem positiven Ergebnis. | |
Aber am Montag darauf klingelte schon früh mein Telefon und gegen Mittag | |
hatte ich drei zeitnahe Angebote. Während in den Medien der Chor der | |
verzweifelten Impfwilligen und überforderten Arzthelfer*innen immer | |
lauter wurde. | |
Ich kam ins Grübeln: Warum hatte das gerade bei mir derart reibungslos | |
geklappt? Normalerweise ist mein Platz ganz hinten in der Schlange, wenn es | |
darum geht, sich mal schnell etwas zu organisieren. Lag es womöglich daran, | |
dass ich in einer Kreuzberger Gegend wohne, die sich mit ihren kahlen | |
Hochhäusern im Landesbesitz bisher vergleichsweise gut gegen die | |
Gentrifizierung behaupten konnte? Dass Zugang zu medizinischen Ressourcen | |
und Vertrauen auf staatliche Institutionen immer auch Klassenfragen sind, | |
ist schließlich bekannt. Und inzwischen künden ja auch Intensivstationen | |
von solchen sozioökonomischen Benachteiligungen im Kontext der Pandemie. | |
Wäre es deshalb verwunderlich, wenn der Impuls, sich mal eben selbst eine | |
Impfung zu besorgen, hier im Hochhausblock geringer ausgeprägt ist als – | |
sagen wir mal – im Gräfekiez? | |
## Termine frei im Hochhausblock | |
Der konkrete Impftermin in einer kleinen Praxis um die Ecke schien dieser | |
Hypothese zumindest nicht zu widersprechen. Traf ich dort bei meinem | |
letzten Besuch einen Querschnitt der Nachbarschaft, saßen hier nun primär | |
Menschen, für die Biodeutsch zumindest kein Schimpfwort wäre und deren | |
ökonomische Sorgen sich im Alltag vermutlich in Grenzen halten dürften. Und | |
da hier in der Gegend im Vergleich zum Tagesspiegel-Land die Zahl der | |
mehrfach Privilegierten überschaubar ist, verließ ich – einigermaßen jung | |
und ohne Vorerkrankungen – die Praxis wenig später mit einem zwiespältigen | |
Gefühl der Erleichterung. | |
Den nächsten Tag verbrachte ich im moderaten Impfdelirium, was leider auch | |
bedeutete, zu viel Zeit zu haben für die Leiden anderer Privilegierter. | |
#Allesdichtmachen war zum Glück schon durch, aber die Zeit hatte ja „für | |
Akademiker*innen“ nachgelegt, wie Leo Fischer es im Neuen Deutschland auf | |
den Punkt brachte. Und so landete ich schließlich bei Juli Zeh und der | |
taz-Besprechung ihres neuen Romans „Über Menschen“ von Dirk Knipphals. Die | |
Protagonistin Doro entflieht dort dem unauthentischen Leben in Berlin, wo | |
angesichts der Pandemie langsam alle linientreu durchdrehen. Alle | |
durchdrehen? Das kam mir doch recht seltsam vor mit Blick auf den | |
konsequent maskenlosen Lifestyle, der von vielen hier in meiner Straße | |
gelebt wird. | |
Während ich mich in meiner kleinen Hochhauswohnung in den Kissen wälzte, | |
musste ich an meine Nachbar*innen denken. Die dürften emotional | |
vermutlich ebenso weit weg sein von Pandemie und woker Arbeitswelt wie die | |
Dörfler in Zehs Roman. Ich weiß, Werk und Autorin sind selten kongruent, | |
und doch, im Impfdelirium machte es plötzlich Sinn: Hat die gebürtige | |
Bonnerin Zeh, die selbst inzwischen in Brandenburg beheimatet ist, in ihrer | |
großstädtischen Vergangenheit einfach immer in den falschen Vierteln | |
gewohnt? Den Weg aufs platte Land für das bisschen echte Leben hätte sie | |
sich doch ansonsten eigentlich sparen können. | |
Stephan Becker | |
11 May 2021 | |
## AUTOREN | |
Stephan Becker | |
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